Folge 1.1: Begräbnis

Die Sonne scheint an einem wolkenlosen Himmel auf den grasbewachsenen Hügel mit vielen kleinen und größeren Grabsteinen. In der Nähe einer Mauer liegt ein offenes Grab, es gehört zu einer durch einen Wiesenstreifen vom restlichen Friedhof abgesetzten Gruppe von Gräbern um einen größeren Gedenkstein herum. Ein Priester steht neben dem Stein, die Trauergemeinde gruppiert sich vor dem anderen Ende der Grube. Die erste Reihe der Trauernden bilden eine resolut aussehende Frau in den Fünfzigern, ein etwas jüngerer Mann im Anzug und mit gegelten Haaren sowie, etwas abgesetzt von den beiden, eine schlanke Frau, deren Alter man durch die große Sonnenbrille und den schwarzen Hut über wallend schwarzen Locken kaum abschätzen kann. Immer wieder greift die mit Brille und Hut fast maskierte Frau mit schwarz behandschuhten Händen zu ihren Taschentüchern, tupft unter der Sonnenbrille ihre Augen. Missbilligende Blicke der gefassten Mittfünfzigerin treffen sie immer wieder, auch die beiden älteren Herren und die junge Frau in der zweiten Reihe halten betont Abstand zu der Schwarzhaarigen. Nur eine Frau in Business-Kostüm, mit Aktentasche neben sich, stärkt der ausgestoßen Wirkenden den Rücken.

„… verabschieden wir heute Charles Benjamin Howard, Unternehmer, großzügiger Spender, stolzer Vater von Dorothy Howard-Fielding, Charles Howard Junior und Claire Howard sowie liebender Ehemann von Esther Goldstein-Howard. Wir trauern um einen großen, lieb gewonnenen Mann. Asche zu Asche, Staub zu Staub.“

Die Mittfünfzigerin Dorothy Howard-Fielding schaut, als habe sie in eine Zitrone gebissen, als Esther Goldstein-Howards Name erwähnt wird. Ihre Miene verfinstert sich, als die schwarzgelockte Esther eine weiße und eine rote Rose in das offene Grab wirft, eine Schaufel Erde hinterherwerfen will, sich dann aber schluchzend abwendet. Die Dame mit der Aktentasche wirkt etwas überfordert, als Esther sich ihr zuwendet und nach ihrer Schulter greift. Sanft nimmt sie Esthers Arm: „Mrs. Howard…“ Doch dann führt sie sie weg, zur Pforte des Friedhofs, wo eine Meute Journalisten wartet. Hier wird die Dame wesentlich souveräner: „Mrs. Goldstein-Howard steht nicht für ihre Fragen zur Verfügung!“, bescheidet sie den Reportern und öffnet die Tür einer schwarzen Limousine für Esther. Ein Reporter stößt regelrecht auf die Dame herab, während Esther ungeschickt einsteigt: „Miss Ames! Ist es korrekt, dass Mrs. Goldstein Alleinerbin von Charles Benjamin Howard sein wird?“ Anwältin Ames schiebt sich in die Tür des Fonds der Limousine, um Esther abzuschirmen. Sie erwidert hart: „Das Testament wird erst in einigen Tagen eröffnet. Mrs. Goldstein-Howard leidet unter dem Tod ihres Mannes, Geld ist das letzte, was sie im Moment interessiert.“ Bevor eine weitere Frage aufkommt, steigt Ames in den Wagen und schließt die Tür hinter sich, dann rauscht der Wagen ab. Die Journalisten stürzen sich gleich darauf auf Dorothy Howard-Fielding und Charles Howard Junior, als diese vom Friedhof an die Straße kommen. Bei diesen beiden blitzt die Presse nicht so ab wie an Ames und Esther Goldstein Howard. Bereitwillig äußert sich Dorothy dazu, dass bereits Anwälte auf die Anfechtung des Testaments angesetzt seien, um zu verhindern, dass das gesamte Howard-Erbe an „dieses geldgierige Mädchen“ ginge, wie sie es ausdrückt. Charles Junior mokiert sich darüber, wie Esther ihre Trauer gespielt habe. Dorothys Ehemann, Senator Fielding aus New Hampshire, erklärt auf die Frage der Presse, er stehe in dieser Sache voll hinter seiner Frau, schließlich habe das Howard-Erbe aufgrund der Staatsaufträge an Howard Industries auch nationale Bedeutung. Claire Howard, die mit 28 Jahren jüngste Tochter Charles B. Howards, wird von der Presse nahezu ignoriert, als sie zu einer Frau um die Sechzig ins Auto steigt, nachdem sie still und in sich gekehrt die Beerdigung verlassen hat.

Als der ältere Mann, der während der Beerdigung hinter Charles Junior und zwischen Senator Fielding und Claire Howard stand, ebenfalls an die Pforte kommt, verlässt einer der Reporter das Interview mit Dorothy, ohne deren zweiten Satz abzuwarten. „Mr. Howard – der Tod ihres älteren Bruders…“ Doch Nicolas Daniel Howard schüttelt den Kopf. „Kein Kommentar.“ Die weiteren Fragen prallen wortlos an ihm ab, während er außen an der Mauer des Friedhofs die Straße entlang geht, sein Blick richtet sich in die Unendlichkeit, über die San Francisco Bay hinweg auf die Bay Bridge und San Francisco selbst. Erst als die Journalisten die Verfolgung aufgegeben haben und sich wieder den Fieldings zuwenden, lässt er zu, dass eine Träne über sein faltig-trockenes Gesicht rollt. Sein Blick fällt auf eine Zeitung, die über die Straße geweht wird:

„Charles B. Howard gestorben! Stehen Arbeitsplätze und Navy-Aufträge in Frage?“, lautet die Schlagzeile. Klein in der unteren Ecke der Titelseite ist die Überschrift zu lesen: „Das jüdische Model an Howards Seite – bekommt sie alles?“

Im Auto drückt Elizabeth Ames sanft und hilflos Esther Goldstein-Howards Oberarm. „Mrs. Howard…“ Sie beißt sich auf die Lippen. „Esther, du solltest nach Hause fahren.“ Doch Esther Goldstein-Howard schüttelt den Kopf. „Nein. Ich habe viel zu tun. Bis zur Testamentseröffnung müssen einige Weichen gestellt werden. Dann haben Dorothy, Charles Junior und Claire Einblick in die Firma – und vor allem auch Nick.“ Esther Howard versucht, fest zu klingen, aber es misslingt – Ames schluckt heftig, als sie die verheulten, rotgeriebenen Augen ihrer Klientin sieht. Dennoch macht sie keinen weiteren Anlauf, als Esther den Chauffeur anweist, Ames zur Kanzlei zu fahren. Sie selbst steigt auf einem Vorplatz aus dem Wagen, eilt über die Treppen nach oben und verschwindet dann in einer Tür der großen Glasfront. Hoch über ihr thront das riesige Firmenschild: „Howard Industries Inc. – Polymers and Metals“. In ihrem Büro angekommen, lässt sie sich in ihren Sessel fallen und beginnt, hemmungslos zu schluchzen. Sie fasst sich, als eine halbe Stunde später mit vorsichtigem Schritt eine Frau in Rock und Bluse eintritt. „Entschuldigung, Mrs. Howard, aber…“, beginnt sie, doch Esther schüttelt den Kopf. „Es gibt nichts zu entschuldigen. Ist Mr. Arden in der Halle bereit?“ Vom plötzlichen geschäftsmäßigen Ton Esthers überrumpelt, braucht die Sekretärin einen Moment, um sich zu fassen. Doch dann nickt sie. Ester richtet sich auf, entledigt sich ihres Huts, der Handschuhe und der Pumps, dann zieht sie aus einem Fach unter dem Schreibtisch eine Hose und eine Bluse hervor. Schließlich ergänzt sie das Outfit durch Sicherheitsschuhe, nimmt einen Helm aus einem Schrank und eilt durch die Gänge. Die Sekretärin schaut verwirrt auf den zurückgelassenen Kleiderhaufen: Kleid, Handschuhe, Sonnenbrille und Hut. „Der Tod des alten Chefs muss sie hart getroffen haben.“, kommentiert sie die ungewohnte Aufgabe, Esther hinterher zu räumen.

Esther selbst steigt weiter hinten auf dem Firmengelände, fast an der San Francisco Bay, von ihrem Fahrrad ab. Sie schluckt, als ihr Blick auf die von den restlichen Gebäuden abgesetzte, von Sichtschutzwänden umgebene Halle fällt. Sie stülpt den Helm über ihre Locken, hält einen Chip an das Code-Schloss und gibt einen zehnstelligen Code ein. Summend öffnet sich die Tür, allerdings behält eine Kamera Esther im Auge, während sie die Prozedur mit einem anderen Code an der Innentür der Schleuse wiederholt. Dann steht sie in einem riesigen Raum. Mehrere große Maschinen aus Schläuchen, Stahlteilen und Verstrebungen gruppieren sich an der rechten Wand – zehn Meter hoch sind die meisten, einige sogar noch höher. In der Mitte der Halle befinden sich drei lange Becken, vielleicht achtzig bis hundert Meter lang und zwanzig Meter breit, mit diversen Gerüsten um sie herum. Ein Mann in gelber Warnweste und gelbem Helm tritt ihr entgegen. „Mrs. Howard!“ Esther nickt ihm zu, doch dann fragt sie grußlos: „Wie weit sind sie, Thomas?“ Thomas Arden wiegt den Kopf. „Du siehst nicht gut aus, Esther.“ Doch sie lässt sich nicht so leicht abspeisen. „Wie weit? Wie lange braucht ihr noch?“ Arden nickt, dann erklärt er bedächtig: „Drei der großen Maschinen sind gerade auf dem Weg. Die sieben verbleibenden zerlegen wir heute und morgen. Drei Tage. Vielleicht vier.“ Esther schüttelt den Kopf. Zu langsam sei das, viel zu langsam. Auch Ardens Einwurf, er habe nicht genug Leute, lässt sie nicht gelten: „Arbeitet die Nächte durch. Ich KANN dir nicht mehr Leute geben, denn ich HABE nicht mehr Leute, denen wir vertrauen können. Plane mich ein. Bis zur Testamentseröffnung braucht mich niemand da draußen.“ Arden schüttelt den Kopf: „Hilf uns bei der Demontage der Mischer und der Reaktoren. Dann gehst du heim, Esther. Du siehst aus wie dein eigenes Gespenst. Liz Ames wird sich um dich kümmern. Wir schaffen das, Esther. Für dich und für Charles Howard.“ Während Esther an der Demontage mehrerer Geräte zu Kunststoffherstellung arbeitet und sich vor ihrer Trauer in die Konzentration auf die Handgriffe flüchtet, beginnen orange Lampen um eines der Becken zu blinken. Einen Moment später hebt sich ein schwarz-glänzendes Objekt aus dem Wasser des Beckens, es wirkt wie eine gewaltige Rückenflosse. Dann schwappt das Wasser von einem schwarzglänzenden Deck und zwei Heckleitwerken herunter. Esther nimmt es kaum zur Kenntnis, verbissen demontiert sie weiter die Geräte. Als Arden sie beruhigen will, schnarrt sie: „Nereide muss so schnell es geht wieder beladen werden. Sie muss vor der Ebbe mit der Fracht raus, damit wir sie auf die Yacht verladen können. Sonst brauchen wir wirklich noch vier Tage. Und dann, Thomas, haben wir Dorothy Howard-Fielding hier, Nick Howard und die CIA. Das wäre das Ende.“ Arden nickt und treibt seine Leute zu mehr Eile an, während Esther die komplexen Steuer-Elektroniken und einige Chemie-Verfahrenstechnik-Systeme ausbaut und verpackt. Als das 55 Meter lange, schwarzglänzende U-Boot „Nereide“ mit Maschinenteilen schwer beladen wieder abtaucht, sind die meisten komplexen Demontagen erledigt. Arden koordiniert seine Leute, doch einer der Arbeiter geht zu Esther Goldstein-Howard. Er lächelt ihr zu. „Mrs. Howard, gehen sie nach Hause. Was sie für dieses Projekt und durch den Tod von Mr. Howard durchmachen, lässt eine Nachtschicht in der Halle wie einen Spaziergang erscheinen. Gehen sie schlafen. Wir machen das schon.“ Sie nickt, weniger aus Überzeugung, sondern weil ihr die Kraft fehlt, ihm zu widersprechen. Anwältin Ames holt sie im Büro ab, auf Fahrt in der Limousine schläft Esther ein. Doch dann liegt sie auf dem Sofa der Wohnung in Oakland. Ins Schlafzimmer, das sie mit Charles teilte, hat sie sich nicht getraut. Doch auch auf dem Sofa findet sie keinen Schlaf, nur Tränen. Zuletzt schluchzt sie trocken krächzend, bevor sie in einen ohnmächtigen Schlaf sinkt.

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