Folge 1.2: Vorstandssitzung

Für das Anwesen eines Milliardärs und Großindustriellen ist die Wohnung in Oakland bescheiden. Sie liegt kaum eine Meile vom Hauptsitz von Howard Industries entfernt, in einem modernen, aber verhältnismäßig unauffälligen mehrstöckigen Wohnhaus. Sie liegt nicht einmal in der obersten Etage, und selbst vom Dach wäre es nicht möglich, die Bay zu sehen. Die Einrichtung ist allerdings hochmodern und teuer, aber zweckmäßig. Es ist bereits nach Mittag, als Esther die Kaffeemaschine in der Küche in Gang setzt, Bohnen mahlt, Milch aufschäumt und beinahe ihre Tasse fallen lässt, als ihr ein Espresso-Tassen-Set ins Auge fällt. Die beiden Tassen stellen stark stilisiert eine schwarzgelockte Frau und einen grauhaarigen Mann dar. In einem ersten Impuls will sie das Set wegräumen, doch dann wischt sie nur die verschütteten Tropfen des Espresso weg, bereitet einen weiteren Espresso und gibt dann den Milchschaum darüber. Die von Thomas Arden zu Esthers und Charles‘ Hochzeit geschenkten Espresso-Tassen versucht sie nicht anzusehen, doch es gelingt nicht. Immer wieder verfängt sich ihr Blick daran. Als sie Elizabeth Ames‘ Telefonnummer wählt, nimmt diese sofort ab. „Mrs. Howard?“, fragt die Anwältin, Esther beginnt: „Liz, könntest du mich abholen kommen?“ Doch dann verebbt ihre Stimme. Ames fragt zweimal nach, erhält aber nur ein unartikuliertes Brummen zurück. Sie verspricht, sofort zu kommen. Auch während Ames mit dem Handy am Ohr zu ihrem Wagen hastet, antwortet Esther nicht mehr wirklich.

Ames findet sie mit der Cappucchino-Tasse in der Hand, erstarrt stehend in der Küche vor. Über den Bildschirm des Fernsehers in der Kühlschranktür flimmern Bilder von Howard Industries, auch der geheimen Halle mit den drei Becken für U-Boote. „Liz“, bringt Esther Howard hervor. Ihre Stimme klingt, als würde sie gewürgt. Mit dem Kaffeebecher deutet sie auf den Bildschirm. Ames nimmt ihr sanft den Becher aus der Hand, streicht über ihre Schulter: „Keine Sorge, Esther. Das lief heute Morgen schon auf einem anderen Kanal. Ist nur das übliche Gegeifer über das stolze amerikanische Unternehmen und die junge Unternehmerwitwe.“ Als Esther noch immer nicht reagiert, bugsiert Ames sie ins Wohnzimmer, schaltet den Fernseher aus und stellt die Kaffeetasse wieder vor sie hin. „Niemand hat Aphrodite, Nereide und Tethys entdeckt. Tom Arden hat zwei Container auf der ‚Dorothy Howard‘ untergebracht, Ziel Tokyo. Er meinte, das könnte dir gefallen.“ Esther zuckt zuerst beim Namen von Charles Howards Tochter, begreift dann aber, dass es um ein Frachtschiff geht, das Howard Industries betreibt. Sie nickt. „Es hat eine feine ironische Note. Das hat Charles an Thomas Arden geschätzt.“ Ames nickt und setzt sich neben Esther und schlägt die Beine übereinander. Dann fragt sie, wie Esther geschlafen habe, bekommt aber nur einsilbige Antworten. Erst als Esther ihren Kaffee getrunken hat und Ames sie zum Wagen begleitet, wird die Milliardärswitwe etwas lebhafter. „Gibt es schon viel Presserummel um die Testamentseröffnung, Liz?“ Ames seufzt. „Ja. Dorothy Fielding und Charles Junior werden auf allen Kanälen damit zitiert, dass sie dich als Alleinerbin nicht akzeptieren werden, dass sie alles anfechten werden. Es gab nicht einmal einen Aufschrei, als Charles Junior in einem Interview sagte, er werde dich ‚fertig machen‘.“ Esther schluckt. Dann schüttelt sie den Kopf: „Irgendetwas von Claire oder Nick?“ Ames schüttelt den Kopf. Sie erklärt, die Tochter aus Charles Howards zweiter Ehe und Charles Howards jüngerer Bruder hätten laut Aussagen der Fernsehkanäle und Zeitungen alle Interview-Anfragen abgelehnt. Als Ames am Haupteingang der Konzernzentrale eine Meute Journalisten entdeckt, biegt sie sofort ab und steuert über Umwege einen Lieferanten-Eingang an. Esther bemerkt es, sagt aber nichts dazu. Ein Wachmann übernimmt den Wagen der Anwältin, sie begleitet Esther zu deren Büro. Dort sitzt eine schlanke junge Frau bereits auf einem der Stühle im Sekretariat. Neben Anwältin Ames im Hosenanzug und der Sekretärin in adrettem Kostüm wirkt die Besucherin in Jeans, kniehhohen Wildlederstiefeln und weit um den Oberkörper fallendem Pullover seltsam deplatziert, der derangiert aussehenden Esther Howard zum Trotz. Doch Liz Ames lächelt der Besucherin zu: „Ah, Sally. Gut, dass du da bist. Miss Benitez, können sie bitte angemessene Kleidung für Mrs. Goldstein-Howard beschaffen?“ Sowohl Kosmetikerin Sally Marsh als auch Sekretärin Cristina Benitez reagieren sofort auf die Bitten der Anwältin, als seien es Befehle. Esthers Protest, sie müsse zur Halle, lässt sie nicht gelten. „Mr. Arden erledigt das, Esther. Wenn du zu oft an die Halle gehst, könnte das auffallen. Wir haben nur das Personal der Halle überprüft. Es laufen aber auch viele andere Leute auf dem Gelände herum.“ Dann überlässt sie es Sally Marsh, Esther in einen „präsentablen Zustand“ zu versetzen, wie sie es nennt. Nachdem Benitez Blazer, Bluse und Etui-Kleid für Esther gebracht hat, zieht sich Ames mit der Sekretärin ins Vorzimmer zurück. „Entspannen sie sich, Mrs. Howard“, fordert Marsh sie auf. Esther seufzt. Sie schaut mehr fasziniert auf die vollen Lippen in Marshs jungem, schlankem Gesicht, als dass sie die beruhigenden Worte versteht, die die Kosmetikerin an sie richtet, während sie ihr in die Kleider hilft. Dann macht sie eine Bemerkung über die Stiefel, was Marsh zu einer lächelnden Kaufempfehlung animiert. Esther döst auf ihrem Schreibtischsessel ein, während Marsh sich mit ihrem Gesicht beschäftigt.

„Sie schläft“, erklärt Marsh, als sie die Tür zu Esthers Büro leise hinter sich schließt. Ames sitzt auf der Kante von Benitez‘ Schreibtisch, die Sekretärin telefoniert. Als sie auflegt, berichtet sie Ames: „Arden ist so gut wie fertig. Den letzten Rest will er ohne Umladen abfertigen.“ Ames lacht auf. „Sie brauchen nicht zu codieren, Cristina. Sally ist eingeweiht.“ Marsh lässt sich am zweiten Schreibtisch im Sekretariat nieder. Ames lässt den Hintern von der Schreibtischkante rutschen, richtet sich energisch auf und tritt zur Kaffeemaschine. Dort bereitet sie Benitez einen Milchkaffee, Marsh einen Grüntee und sich selbst einen Espresso. „Hat sie überhaupt geschlafen?“, wendet sich Marsh an Ames, diese zuckt die Schultern. „Sicher nicht erholsam. Ich glaube, keiner hat so recht verstanden, wie viel ihr Charles Howard bedeutet hat. Wir alle haben nur die leidenschaftliche Pazifistin und Umweltschützerin gesehen. Aber zwischen dem alten Howard und ihr war wohl mehr als eine falsch verstandene Großvater-Enkeltochter-Affäre und die Leidenschaft für die Sache.“ Marsh wiegt den Kopf hin und her, eine Strähne entkommt dem Haarknoten auf ihrem Hinterkopf. Beiläufig bittet sie Benitez, für Esther ein Paar der Stiefel zu bestellen, die sie gerade trägt. Dann berichtet sie über das Leuchten in den Augen Esthers, wenn diese vom Anwesen auf Oahu sprach und von Charles B. Howards romantischer Ader, die er dort auslebe. „Wie ein verliebter Teenager wirkte sie dann. Sie kommt mir oft älter vor, als sie ist – nicht nur die fünf Jahre älter als ich. Aber in diesen Momenten fühlte ich mich abgeklärt und unromantisch.“ Benitez seufzt. „Ich werde das vermissen. Mir kommt es so vor, als hätten wir solche Momente nicht erst seit Charles Howards Tod hier gehabt.“ Ames nickt und erwidert: „Es waren zehn sehr intensive Tage. Aber jemand muss hier die Stellung halten, Cristina.“ Schweigend sitzen Sally Marsh und Elizabeth Ames im Büro, während Benitez ihrer Arbeit nachgeht. Sie hat das Hin und Her in Ames‘ Anrede bemerkt, aber nicht kommentiert. Marsh denkt nach, Ames verfolgt auf dem Smartphone die Nachrichten. Dann, ganz unvermittelt, erklärt Ames: „Du wirst das Anwesen ja bald selbst sehen, Sally.“ Sowohl Marsh als auch Benitez schauen irritiert, akustisch haben sie die Worte wohl verstanden, aber in ihren Köpfen kommen sie nicht an. Erst als Ames die Aussage wiederholt, nicken beide. Benitez scheint dabei etwas einzufallen. Sie greift in ihre Schreibtischschublade und holt einen Umschlag heraus. „SFO nach HNL, Morgen Nachmittag. Mr. Hiller und Mr. Sanders wissen Bescheid und werden dich am Flughafen abholen.“ Marsh nickt. Als Esther aus ihrem Büro kommt, springt sie auf und behebt einige Schäden, die das Nickerchen auf dem Schreibtischstuhl an Esthers Make-Up angerichtet hat. Dann zieht sie sich zurück, während Ames und Benitez Esther auf die Vorstandssitzung vorbereiten.

Nach kaum einer halben Stunde ist die Sitzung beendet. Die Entscheidungen des laufenden Geschäfts sind schnell abgearbeitet, strategische Weichen möchte keiner stellen, bevor nicht das Testament verlesen ist. Fragen, ob sie um den Inhalt von Charles B. Howards letzten Willen wisse, bügelt Esther unwirsch ab. Nervös wie ein gefangener Tiger geht sie in ihrem Büro auf und ab, nachdem sie von der Sitzung zurück ist. Ames sitzt gelassen auf der Schreibtischkante und sagt nichts. Dann kommt der erlösende Anruf: Arden berichtet, er sei fertig. Esther könne kurz die Halle besichtigen, bevor er mit „Tethys“ aufbreche, „Nereide“ und „Aphrodite“ seien bereits auf dem Weg. Ames begleitet Esther zur Halle, doch abgesehen von Arden und dreien seiner Leute ist die Halle fast leer. Nur im mittleren Becken dümpelt noch ein U-Boot, das wie schwarzer, nasser Gummi glänzt, drei neue Maschinen stehen in einer Ecke der Halle. „Melde Vollzug, Mrs. Howard. Startet die Sache heute Nacht oder die Nacht darauf?“, fragt Arden. Ames lächelt und antwortet, bevor Esther etwas sagen kann: „Heute Nacht. Ich vermute, es würde Fragen aufwerfen, wenn es nach der Eröffnung des Testaments passiert.“ Nach einer kurzen Umarmung für Arden verlassen Esther und Elizabeth Ames die Halle wieder, während Ardens Männer an den drei Maschinen hantieren. Arden selbst steigt bereits durch eine Luke in den Bauch des Klein-U-Boots „Tethys“.

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