Folge 1.5: Das Werk eines Toten

Eine halbe Stunde später gehen Sally Marsh und Esther Goldstein-Howard zwischen den Hecken und Beeten des paradiesischen Gartens in Richtung der Küste. Esther ist in einen schwarzen Bikini und ein fast durchsichtiges, beiges Sommerkleid gewechselt. John Hiller, der kleine, teilweise kahle Verwalter des Anwesens geht neben ihr her: „Wir haben sichergestellt, dass keine Journalisten auf das Gelände kommen. Mr. Sanders trägt dafür Sorge, außerdem haben wir zwei Sicherheitsmänner angestellt. Diese haben Anweisung, sich nur auf den Wegen am Zaun aufzuhalten und nicht in den Garten und nicht hinter das Haus zu kommen. Sie haben also ihre Privatsphäre. Die ‚Charlotte Howard‘ liegt seit gestern vor der Küste, Kapitän Sakamoto ist bereit zum Auslaufen, wenn sie es anweisen.“ Esther nickt. Dann fragt sie, wer noch auf der Yacht anwesend sei. Vier Namen nennt Hiller: zwei weitere Männer, eine Frau und Mai Sakamoto, die Tochter des Kapitäns. Esther nickt zufrieden. Sie erklärt, maximal drei Tage mit der Yacht unterwegs zu sein, bevor sie zum Anwesen zurückkehre. An der Steilküste versperren Hecken und ein Geländer den Weg, doch es gibt eine schmale Treppe nach unten an den schmalen Strand. Hiller bleibt oben am Geländer stehen, als Marsh und Esther nach unten steigen. Ein Schlauchboot liegt auf dem Sand, zielstrebig gehen sie darauf zu und benutzen es dann, um zu der riesigen, rein weißen Yacht zu fahren, die dreihundert Meter vor der Küste ankert. Nur wenige Minuten, nachdem die beiden Frauen das Deck der Yacht betreten haben, lichtet das Schiff den Anker und steuert hinaus auf den Ozean.

Tausende Meilen weiter östlich ist es bereits spätabends. Dorothy Howard-Fielding sitzt auf der Kante eines Sessels in einem Konferenzzimmer der Zentrale von Howard Industries. Geradezu unverschämt lässig lehnt Charles Junior einem ähnlichen Sessel. Zwei Anwälte und zwei FBI-Agents sind ebenfalls anwesend. Der Beherrscher der Szene ist aber ein grauschläfiger, hagerer Herr im schwarzen Anzug, der am Kopfende des Besprechungstisches platzgenommen hat. „Ich verstehe sie also richtig, Mrs. Howard-Fielding? Sie haben keinerlei Kenntnisse über den Stand der U-Boot-Entwicklung in Halle E17 vor dem Brand? Sie haben auch noch keine Informationen über die Brandursache?“ Die älteste Tochter von Charles Howard erwidert beherrscht: „Nein, habe ich nicht. Mr. Arden zeigte mir die Fortschrittsberichte, allerdings scheint das Projekt massivst hinter dem Zeitplan zurückgeblieben zu sein. Zuständig für die Entwicklung war Mr. Ardens Stellvertreter, Dr. Callaghan, der jedoch bei einem Surf-Unfall im vergangenen Monat ums Leben kam.“ Der hagere Mann lässt sich nicht anmerken, ob ihm diese Antwort gefällt oder nicht. „Sie haben also die Geschäfte des Unternehmens nicht detailliert verfolgt. Könnte Mrs. Goldstein-Howard vielleicht die benötigten Informationen besitzen?“ Die Antwort Dorothy Howard-Fieldings kommt einem Schnappen gleich: „Das müssen sie sie selbst fragen, Agent Bannister.“ Charles Junior wirft ein: „So gerne ich der jüdischen Dirne, an die Vater sein Herz verschenken wollte, eins auswischen wollte – ich glaub‘ nicht ansatzweise, dass die eine Ahnung vom Fachlichen oder Geschäftlichen von Howard Industries hat.“ Dorothy wechselt Blicke mit den Anwälten, dann fährt sie ihrem jüngeren Bruder über den Mund: „Halt den Mund, Charlie. Was die weiß oder nicht weiß, sollte nicht dem Urteil deines unsinnigen Macho-Gehabes überlassen werden.“ Mit Mühe vermeidet Charles eine heftige, eher trotzige Erwiderung an seine ältere Schwester. Dann fragt er den männlichen FBI-Agent: „Gibt’s denn inzwischen eine Brandursache?“ Der Mann zuckt die Schultern. „Meine Kollegin ist die Expertin. Cynthia?“ Die Angesprochene nickt. Dann erläutert sie, dass eine schlecht gewartete elektrische Verbindung in einer der Maschinen zum Guss eines neuen Kunststoff-Verbundmaterials das Feuer ausgelöst habe. Die Rohstoffe für die Polymerisierung hätten hervorragend gebrannt und somit sei in der Halle kaum etwas übrig geblieben. Die dokumentierten, spärlichen Fortschritte bei der Entwicklung einer druckfesten, schallschluckenden Beschichtung seien in der ausgebrannten Halle nachvollziehbar gewesen. Charles erklärt vollmundig, er werde Thomas Arden dafür feuern, aber Dorothy fährt ihm in die Parade: „Das werden Onkel Nick und ich entscheiden, Charles. Würdest du bitte versuchen, deine Diskussionsbeiträge auf konstruktive Vorschläge zu beschränken?“ Agent Bannister kommentiert: „Die CIA wird eine eigene Untersuchung starten. Wir werden ihnen mitteilen, wenn die Ergebnisse Konsequenzen für sie haben.“ Damit steht er auf und verlässt den Raum. Vor der Tür schließen sich ihm zwei Militärpolizisten an. Auch die beiden FBI-Agenten verabschieden sich. Dorothy Howard-Fielding fragt in Richtung der Anwälte, als sie unter sich sind: „Können wir Esther Goldstein, Thomas Arden oder irgendwen dafür belangen, dass durch diese Schlamperei und Unfähigkeit die Navy Vertragsstrafen gegenüber uns verhängt? Können wir Umsatzausfall geltend machen?“ Einer der Anwälte wiegt skeptisch den Kopf, der andere erklärt: „Wir werden das prüfen, Mrs. Howard-Fielding. Wenn sich eine vage Möglichkeit ergibt, soll Miss Ames dem nicht im Wege stehen.“ Dass sich der Anwalt darauf freut, Elizabeth Ames vor Gericht zu demütigen, entgeht nicht einmal Charles Junior, obwohl dieser sich in Bilder auf seinem Handy vertieft hat.

Auf der „Charlotte Howard“ lehnt Esther auf dem hinteren Deck und lässt die Haare im Wind wehen. Sie sieht über das Meer und seufzt: Die Erinnerung an gemeinsame Fahrten mit Charles Howard auf der Yacht überfällt sie plötzlich und heftig. Sally Marsh will ihr gerade beispringen, doch ein Mann in Hawaii-Hemd und Badeshorts kommt ihr zuvor. Er lehnt sich neben sie, vermeidet eine Berührung und sagt leise: „Es ist der Gedanke an ihn, nicht? Du hältst dich tapfer für die Art, wie sie dir die Hölle heiß machen.“ Sie zuckt die Schultern. „Das spielt keine Rolle. Bei der Beerdigung und der Testamentseröffnung habe ich es verborgen und sie sagten, ich trauere nicht.“ Er berührt sie nun doch an der Schulter, doch sie schiebt seine Hand weg. „Nein, Corey. Ich weiß, du meinst es nicht so. Aber es geht nicht.“ Er nickt resignierend und überlässt Sally Marsh das Feld. Kapitän Sakamoto, der gerade einem anderen Mann das Steuer überlassen hat, sieht Corey an und schüttelt den Kopf: „Sie sind nicht die Person, die Howard-san trösten sollte, Callaghan-san.“ Er zuckt die Schultern und erwidert fatalistisch, es mache ohnehin keinen Unterschied. Er sei tot und habe nur nett sein wollen. Dann starrt er über das Meer, während Sakamoto selbst zu den beiden Frauen an der heckwärtigen Badeplattform schaut. Seine Tochter, die siebzehnjährige Mai, schließt sich ihnen an. Sakamoto kann es gut verbergen, aber es versetzt ihm einen Stich, als seine Tochter sich Esther und Sally anschließt. Esther selbst lächelt: „Hallo Mai. Solltest du nicht auf dem Konservatorium in Sunnyvale sein?“ Sie schüttelt den Kopf und erwidert nur ein Wort: Ferien. Auf Marshs Frage erklärt sie, neben Geige und Gesang und auch Unterricht am Klavier zu nehmen. Die schlanke, junge Japanerin passt den richtigen Moment ab, dann bekundet sie ihr Mitgefühl für Esthers Verlust. Doch sie brennt darauf, ein anderes Thema anzuschneiden. Esther lässt es aber zunächst nicht dazu kommen. Sie fragt nach den Kommilitonen in Kalifornien, nach Mais Spanisch-Kenntnissen und nach Zukunftsplänen. Im selben Moment, da sie die Zukunftspläne anschneidet, bereut sie es. Mai nutzt die Gelegenheit sofort: „Mrs. Howard, ich möchte mitmachen.“ Mai Sakamoto lächelt höflich, als Esther und Sally Marsh Unwissenheit vorschützen, was sie meine. Dann erklärt sie sanft und leise, aber deutlich: „Ich weiß, dass ‚Aphrodite‘, ‚Nereide‘ und ‚Tethys‘ noch existieren. Wenn ich Vater auf der Yacht besuche, kann ich den Müll auf dem Pazifik schwimmen sehen. Ich habe Wale in Sausalito gesehen, beim Bay Model. Ich weiß, dass sie vom Aussterben bedroht sind, aber mit Ausreden immer noch gejagt werden. Ich weiß, was sie vorhaben, Howard-san. Ich wäre gerne dabei. So wie Dr. Callaghan, Miss Marsh und Mr. Wells.“ Sally Marsh sieht Mai überrumpelt an, dann blickt sie fragend zu Esther. Diese stellt sich weit schneller auf die Situation ein, auch wenn Mais Worte ihr einen Schock versetzt haben. Sie fragt, ob ihr Vater Mai davon erzählt habe, doch Mai schüttelt den Kopf: „Nicht ursprünglich. Ich habe Corey Callaghan beim Untertauchen geholfen. Dabei hat er etwas gesagt, das er nicht sagen wollte. Ich habe meine eigenen Schlüsse gezogen.“ Esther sagt nichts, beschließt aber, Corey Callaghan zur Rede zu stellen, was er sich anmaße. Es ist fast weniger die Gefahr, dass Mai etwas ausplaudere, sondern viel mehr die Sorge, dass Mai nun ebenfalls in ihre Pläne hineingezogen wird.

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