Majestätisch langsam gleitet die „Charlotte Howard“ auf die Ostküste von Oahu zu. Will Sanders lehnt an der Reling des Sonnendecks, er lässt den Blick alibimäßig über das Meer schweifen, aber eigentlich schaut er hauptsächlich Esther Goldstein-Howard und Sally Marsh zu, wie sie sich sonnen. Esther lässt sich nicht anmerken, dass sie es bemerkt, Sally dagegen hat die Augen schon seit geraumer Weile geschlossen und noch nicht einmal bemerkt, dass Sanders an Deck gekommen ist. Insgeheim fragt sich Esther, was Sally auf dem U-Boot getan hat, statt zu schlafen. Ihre Phantasie lässt sie sich an Chartrand ankuscheln, aber ihr ist durchaus bewusst, dass Sally Sylvains Gefühle vielleicht teilt, vielleicht aber auch nicht – jedenfalls ist die Kosmetikerin noch nicht so weit, es konkret werden zu lassen. Lächelnd ruft Esther sich zur Ordnung: Kaum einer aus der Gruppe überblickt auch nur, welchen Strudel sie zu entfesseln im Begriff sind, um mit plakativen Aktionen die Umweltsünder auf dem Pazifik das fürchten zu lehren. Corey Callaghans Fanatismus und seine Schwärmerei für sie, Esther. Sally Marshs kalifornische Öko-Ideale und ihr unbedarfter Umgang mit der militanten Untergrund-Organisation, die sie nun einmal geworden sind. Liz Ames‘ Hass auf Landsman und ihre Geltungssucht. Chartrands vielfältige Gründe, warum er seinen Offiziersposten bei der französischen Marine aufgegeben hat, und seine fast schon jungenhafte Schwärmerei für Sally. Als sie bemerkt, dass sie ihre Leute an den Fingern abzählt und Will Sanders fragend schaut, seufzt sie und steht auf. Sakamoto lehnt in der Nähe des Steuers an einer Wand, gelassen überwacht er den Autopiloten. „Howard-san. Haben sie sich gut ausgeruht?“ Esther lächelt, aber sie antwortet nicht auf die Frage. Sie schaut auf die Insel, die sich mit dem Näherkommen immer mehr aus dem Meer hebt. „Was werden sie tun, Ichigo-kun, wenn wir bei einer unserer Aktionen erwischt oder getötet werden?“ Sakamoto zögert, fixiert ebenfalls die Insel, die in zunehmendem Maße die gesamte Sicht aus den Frontfenstern der Steuerkabine der „Charlotte Howard“ einnimmt. Er lässt sich Zeit, doch dann erklärt er leise und bestimmt: „Das Teehaus in Haleiwa sucht jemanden, der dem dortigen Meister in etlichen Jahren nachfolgen kann.“ Nach einer weiteren Pause fügt er an: „Lassen sie sich nicht gefangen nehmen, Howard-san.“ Esther nickt. Will Sanders und Sally Marsh auf dem Sonnendeck haben Sakamoto und auch Esther über das Gespräch fast vergessen. Als die Yacht das Howard-Anwesen erreicht, geht Sakamoto mit seiner Chefin von Bord. Zwei Wachleute übernehmen es, das vor dem Strand verankerte Schiff zu bewachen, während Will Sanders den Kapitän nach Honolulu fährt. Sally und Esther lassen sich von Hiller ein Essen servieren, bevor sie sich über einer Liste zusammensetzen.
Notar Aldred ist an seinem Schreibtisch eingenickt. Als das Telefon klingelt, ist er kurz desorientiert, dann nimmt er ab: „Aldred!“ Seine Sekretärin teilt ihm mit, dass Elizabeth Ames in der Leitung sei, sie wolle unbedingt mit ihm sprechen. „Sie soll in zehn Minuten noch einmal anrufen. Bringen sie mir einen Kaffee und ein Glas Wasser – im Bourbon-Glas.“ Als die Sekretärin bestätigt, legt er einfach auf, doch als sie mit einem Tablett hereinkommt, bedankt er sich und legt einen weit weniger harschen Ton an den Tag als zuvor am Telefon. Die Sekretärin lächelt nachsichtig – sie ist jung, aber ihre Vorgängerin, die nur drei Jahre jünger als der inzwischen fünfundsiebzigjährige Notar war, hat sie in die Gewohnheiten des zunehmend verschrobenen Chefs eingeweiht. Auf dem Tablett steht eine kleine Kristallflasche mit Glasdeckel, die eine goldbraune Flüssigkeit enthält, daneben das Whiskeyglas mit Wasser darin und die Kaffeetasse. Rasch zieht die Sekretärin sich zurück, als das Telefon wieder klingelt und Aldred abnimmt: „Hallo.“ Tatsächlich ist Ames am anderen Ende der Leitung. Sie bemüht sich um Höflichkeit, erkundigt sich nach dem Befinden des Notars, doch er gibt nur einsilbige Antworten. Nach zehn Minuten wird es ihm zu bunt: „Was wollen sie, Liz?“ Ames schaltet sofort um: „Sie müssen das vorherige Testament offenlegen, Richard. Es mag nicht entsprechend der Buchstaben der Worte von Charles Benjamin Howard sein, aber es ist entsprechend des Geistes dieses Worte!“ Bedächtig schweigt Aldred am Telefon, dann kippt er mit der linken Hand etwa die Hälfte des Bourbons aus dem Flakon in sein Wasser und die andere Hälfte in seinen Kaffee. „Miss Ames, wir sind Juristen. Die Buchstaben des Gesetzes, der Verträge und Schriftsätze, die wir für unsere Klienten angefertigt haben, sind alles, was wir haben. Wenn wir die Maxime des Willens unserer Klienten nicht in diesen Worten untergebracht haben, dann haben wir versagt.“ Zuerst will Ames aufbrausen, er hört sie durch den Hörer scharf Luft einsaugen, doch dann lässt sie den Atem langsam und ebenso hörbar wieder entweichen. Noch einmal atmet sie durch, schweigt fast zwanzig Sekunden. Aldred nimmt einen Schluck von seinem mit Bourbon verdünnten Kaffee und lächelt. Das Lächeln vergeht, als sie erklärt: „Wir müssen uns aber mit diesem Versagen nicht abfinden, Richard. Gemeinsam können wir einen Weg finden, wie sie aus dieser Zwickmühle herauskommen.“ Der Notar seufzt: „Charles‘ Worte sind eindeutig. Alle vorherigen Versionen liegen im Safe und bleiben dort, bis Kalifornien entlang der San-Andreas-Verwerfung halb dort liegt, wo es jetzt liegt, und halb bis nach Oregon verschoben ist. Nichts kann das ändern.“ Ames antwortet trocken: „Wir werden sehen. Bis dann, Daniel.“ Seufzend lehnt Aldred sich zurück, schnuppert in den leeren Glasflakon hinein. Fast bereut er, beide Hälften des Inhalts verdünnt zu haben – mit Kaffee und Wasser. Vor seinem geistigen Auge sieht er, wie Charles B. Howard in sein Büro kam, beide Männer waren noch in ihren Zwanzigern. Er murmelt zu sich selbst: „Ich war auch mal so jung, Miss Ames. Ich dachte, ich könnte die Welt verändern. Dann kamen der alte Howard und Charlotte, und all der Idealismus und das Rebellentum wurden eingepreist. Ich bin gespannt auf ihren nächsten Zug, Liz. Wirklich gespannt!“ Er widersteht dem Drang, über die Sprechanlage weiteren Bourbon von seiner Sekretärin bringen zu lassen.
[…] keinen neuen Vorrat an Beiträgen für den Howard-Goldstein-Vortex produziert. Aber der aktuelle Kaffee oder Tee wird trotzdem nicht der vorerst letzte sein. Ich hatte zwar nur bis zu diesem vorab Texte […]
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