Folge 1.29: Dreckschlacht

„Du siehst aus, als wolltest du jemanden erwürgen, große Schwester!“ Charles Howard Junior genießt es sichtlich, die Unbeherrschtheit seiner Schwester anzuprangern. Dorothy Howard-Fielding wirft ihm einen vernichtenden Blick zu, während sie mit verdrießlicher Miene ihre Sicherheitsfreigabe im Original in einen großen Umschlag steckt. Doch der jüngere Sohn Charles B. Howards aus erster Ehe lässt nicht locker: „Was bringt dich so auf?“ Sie schnaubt, doch dann zuckt sie mit den Schultern. „Wir haben einen Formfehler gemacht, als wir die Akten einsehen wollten. Die brauchen eine beglaubigte Kopie oder das Original der verdammten Freigabe.“ Auf die Frage hin, ob Bob Landsman ihr das nicht gesagt habe, schnaubt sie nur abermals unwillig, dann drückt sie auf einen Knopf auf ihrem Schreibtisch. Charles setzt sich lässig auf die Schreibtischkante und knöpft die oberen drei Knöpfe seines Hemdkragens auf, was ihm ein Augenrollen seiner Schwester einbringt. Es dauert eine halbe Minute, dann tritt Colette Williams ein. Die Juristin aus der Rechtsabteilung von Howard Industries trägt eine hellblaue, glänzende Bluse und ein hellgraues Kostüm. Charles lässt seine Blicke völlig ungeniert über den Körper der Frau gleiten, die ihm einen giftigen Blick zuwirft. Dorothy richtet sich auf, schiebt mit den Knien den Schreibtischstuhl zurück und reicht ihr den Umschlag: „Das fehlende Dokument, Miss Williams.“ Die Mittvierzigerin erwidert kühl: „Mrs. Williams, Ma’am. Vielen Dank. Wir werden Ihnen die Akten zukommen lassen. Bitte beachten Sie, dass wir der Navy versichert haben, dass ausschließlich freigegebenes Personal Einsicht erhält.“ So betont, wie sie mit ihren Blicken Charles meidet, wird selbst diesem deutlich, dass er gemeint ist. Er versetzt: „Und was wollen sie dagegen tun, Süße?“ Wenn Colette Williams‘ Stimme eine Temperatur hätte, läge diese nun auf antarktischem Niveau: „Mrs. Howard-Fielding, ich MUSS sie darauf hinweisen, dass im Falle eines Bruchs der Vorgaben der Navy die Zuverlässigkeitsüberprüfung der Person, die diesen Bruch wissentlich verursacht, zu verwerfen ist. Zudem muss ich darauf hinweisen, dass wenn mir zur Kenntnis kommt, dass eine überprüfte Person ihre Freigabe missbraucht, ich die als geheim klassifizierten Akten zurückhalten muss – und dies ist keine ‚kann‘-Vorgabe…“ Dorothy öffnet den Mund, um Williams anzuherrschen, ihre Fingerknöchel krampfen sich um die Schreibtischkante. Doch dann besinnt sie sich eines Besseren: „Mrs. Williams, ich versichere ihnen, dass mein Bruder über mich weder Einsicht in die Akten zum Navy-Projekt erhalten wird, noch ich ihm über den Inhalt dieser Akten berichten werde. Genügt ihnen das?“ Colette Williams nickt, doch bevor sie noch etwas ergänzen kann, reißt Dorothy ein Blatt von ihrem Notizblock ab, zückt ihren Füller aus Gold und Keramik und schreibt: „Hiermit versichere ich, Dorothy Howard-Fielding, dass ich den Inhalt der Akten zum Projekt ’schallschluckende Beschichtung von tauchbaren Schiffen‘ bei Howard Industries keiner Person zur Kenntnis bringe, die über keine adäquate Sicherheitsfreigabe verfügt.“ Dann setzt sie ihre Unterschrift darunter und reicht den Zettel über den Tisch. Colette Williams bedankt sich, dreht sich auf dem Absatz um und verlässt das Büro wieder. Langsam schließt sich die Tür hinter ihr. Noch bevor sie ins Schloss gefallen ist, zetert Dorothy los: „Du Idiot! Erstens war das haarscharf an einer Grenzüberschreitung vorbei und zweitens hast du keine gottverdammte Freigabe. Du kennst die Regeln!“ Als die Tür endlich mit einem Klicken schallisolierend schließt, fügt sie leise und gefährlich an: „Wenn du nicht so ein Theater aufgeführt hättest, hätte sie sich mit einem mündlichen ‚Ja‘ begnügt und ich hätte dir die Akten vielleicht gezeigt. Und jetzt verpiss‘ dich, bevor die Akten hochkommen! Schaff‘ deinen Arsch hier raus!“ Als Dorothy ihn so vulgär hinauswirft, schockiert Charles Junior offenkundig so sehr, dass er sich nicht zu einer lockeren Erwiderung in der Lage sieht. Die Sekretärin im Vorzimmer bemüht sich redlich, ihre Häme zu verbergen, während sie Charles Juniors Miene beim Verlassen des Büros beobachtet. Doch dieser hat keine Augen dafür, er ist viel zu sehr damit beschäftigt, seine arrogante Maske wieder aufzubauen.

Langsam gleitet „Aphrodite“ durch die Schwärze des tiefen Wassers. Marshall Wells lehnt an dem Geländer um das Periskop und beobachtet die Vorgänge in der Zentrale des kleinen U-Bootes. Er beachtet Sally Marsh nicht, die bereits in schwarzglänzendem Taucheranzug angetan ist und sich am Rahmen der Heckluke festhält. Die Navigatorin des Bootes ist merklich angestrengt, ebenso der Orter. Ohne sich zu Sally umzuschauen, meint Wells: „Es gibt Orte, die ich wesentlich lieber verstohlen anlaufe als Los Angeles. Musste es unbedingt Huntington Beach sein, Sally?“ Sie zuckt die Schultern, obwohl er es nicht sehen kann. Wells hat keine Gelegenheit nachzufragen, auch er ist sehr konzentriert. Sally erwidert nach fast drei Minuten: „Wenn, dann richtig. Howard Industries wäre zu offensichtlich gewesen, also die direkte Konkurrenz. Wärest du lieber durch die Nordwestpassage an die Ostküste gefahren?“ Der Captain lacht auf: „Battery Park, New York City. Das wär’s gewesen. Aber mit diesem Riesennetz hinter den Propellern fahr‘ ich weder durch den Parry-Channel noch um Kap Hoorn, darauf kannst du dich verlassen.“ Leise meldet der Orter Überwasserkontakte, die Navigatorin fragt an, ob sie angesichts des flacher werdenden Wassers auf auf zweihundert Meter steigen soll. Wells erwidert: „Geh‘ gleich auf 120 Meter. Es ist nicht mehr weit bis Huntington Beach. Wir gehen ganz langsam hoch. Außenteam, an die Luken. Zieht das Netz schonmal näher ran.“ Die nächsten zwei Stunden verbringt die Mannschaft in heftiger Anspannung, denn immer noch sind zu viele Schiffe im Bereich des geplanten Landebereichs. Wells lässt langsam in 70 Meter Tiefe Kreise fahren, damit das prall gefüllte Netz hinter dem Boot nicht in die Schrauben treibt. „Oben frei!“, verkündet der Orter, die Navigatorin unterdrückt ein Lachen: „Untenrum noch Daisy Dukes,“ antwortet sie, nimmt aber Wells‘ Kommando schon vorweg und steuert das Boot in Richtung Strand und an die Oberfläche. Sally und vier weitere, in schwarzen, ölig glänzenden Anzügen angetane Mitglieder der Organisation steigen bereits vom Turm hinunter, als noch zwei Meter Wasser über Deck sind. Als das Boot scharf nach Süden abdreht, haben sie zwei Kabel am U-Boot ausgehängt und schleppen ein riesiges Netz mit dem Schlauchboot in Richtung des dunklen Strandabschnitts. Hinter mehreren Hallen verschwimmen die Lichter von Huntington Beach mit der Lichtaura von Los Angeles. Bei dem heiklen Manöver wird kein Wort gesprochen, nicht einmal in die Funk-Atemmasken der schwarzen Anzüge. Dann klappt eine der dunklen Gestalten den Außenbord-Motor nach oben und setzt das Schlauchboot auf den Strand. „Los“, kommandiert Sally. Schnell und verhältnismäßig leise werden zwei gewundene Stangen in den Sand gebohrt, dann ziehen sie mit der so verankerten Motorwinde an den Tauen. Die Kraft der Winde und der zuvor erworbene Schwung lassen die gewaltige, dunkle Masse wie ein Meeresungeheuer durch die Wasseroberfläche brechen. Hektisch stürmen die fünf Gestalten auseinander, als eine Konstruktion aus drei verlorenen Schleppnetzen durch den Sand pflügt, langsam an Schwung verliert und die Winde überrollt. Fast zwanzig Meter landeinwärts der Wasserlinie bleibt der Berg von Kunststoff im Netz liegen, zehn Meter hoch und zwanzig Meter im Durchmesser. „Scheiße! Kann man nachvollziehen, wessen verdammte Winde das war?“ Sally lächelt unter ihrer Maske. Sie erklärt ruhig, dass Seriennummern und Markenzeichen von den Teilen der Winde herunter geschliffen wurden, wie bei allen Geräten, die die Gruppe verwendet. „So. Es ist – Null-Dreihundert Ortszeit. Vor fünf Minuten hat die Presse einen anonymen Tipp bekommen. Scheiß auf die Drecks-Winde, dreht das Schlauchboot rum. Wenn die Presse hier ankommt, will Marshall ‚Aphrodite‘ schon hundert Meter tief mit Kurs auf den Santa-Barbara-Kanal haben. Bewegt euch!“ Dass sich Sally seltsam dabei vorkommt, den Befehlston an den Tag zu legen, den sie von Chartrand und Wells kennt, tut ihrer Entschlossenheit keinen Abbruch. Zehn Minuten später liegt das entleerte Schlauchboot unter der Luke, der Motor hat beim Sturz in den Niedergang gelitten. Aber die „Aphrodite“ taucht ab, während Wells noch durch das Periskop zum Strand starrt. Als Sally in die Zentrale kommt, erklärt der Kapitän: „Miss Anonyma Ames war ganz schön flott. Ein Kamerateam ist schon da. Es ist allerhöchste Zeit!“ Die Navigatorin kommentiert: „Zehn Grad vorlastig, bin doch schon dabei. Festhalten, Sally!“ Diese krallt sich am Geländer um das Periskop fest, fällt aber dennoch halb gegen Wells. Der Mann grinst: „Du bist nass – und glatt. Bewahre dir das mal für Sylvain auf, dem könnte das gefallen.“ Sally fragt, ob es ihm nicht gefalle, doch Wells zwinkert ihr zu: „Süße, du bist so gar nicht mein Beuteschema. Nichtmal in schallschluckendem Howard-Industries-Superrubber.“

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