Als die „Charlotte Howard“ frühmorgens am Steg des Anwesens festmacht, bemüht Esther sich um eine gelangweilte Miene. Dass sie erleichtert ist, ihr Anwesen wieder zu sehen, und ganz langsam neuen Mut gefasst hat, lässt sie sich nicht anmerken. John Hiller steht auf den Brettern des Stegs und nickt ihr zu. Beiden ist bewusst, dass vor der Küste ein Boot liegt, von dem schon mehrfach Kameralinsen die Sonne in Richtung der Küste zurückgeworfen haben. Esther gibt die etwas genervte Hausherrin, Hiller den durchaus nicht unterwürfigen Hausangestellten, und nach einigem Geplänkel entziehen sie sich auf dem Weg durch den Garten den Kameras. „Ich habe bereits gehört, dass sie ein Boot verloren haben, Esther, und vor allem Miss Perkins. Das tut mir leid. Ich fürchte allerdings, dass wir recht schnell zum Tagesgeschäft zurückkehren müssen.“ Sie nickt, dann fragt sie: „Lohnt es sich, auf Willard und Sakamoto-san zu warten?“ Hiller erklärt trocken: „Ich vermute, die Post, um deren Öffnung ich sie bitten möchte, ist ohnehin nichts für deren Augen. Die ‚Jungs‘ haben bereits daran geschnuppert und nichts gefunden. Sie kam während ihrer Abwesenheit, am… zehnten.“ Esther hebt die Brauen, aber sie erwidert nicht, was ihr durch den Kopf geht: Drei Tage nach dem Verlust der „Aphrodite“. Als Hiller sie über die persönliche Übergabe und den Innenumschlag nur für die Augen von Esther informiert, wird sie noch unruhiger. Sie schließt die Tür des Arbeitszimmers hinter sich, als sie im Haus sind, und nimmt den Umschlag vom Schreibtisch. Nach kurzem Zögern reißt sie ihn auf. Eine Fotokopie und eine mit wenigen Sätzen in Blockschrift handbeschriebene Seite fallen heraus. Sie liest die Koordinaten der Kopie eines Satellitenbildes, dann die darauf geklebten und mit fotokopierten Post-Its: „Dieselelektrisches U-Boot, vermutlich Volksrepublik China.“ – „Torpedoangriff auf Walfänger oder Unfall?“ Eine Markierung auf dem Bild: „Unbekanntes U-Boot“ ist durchgestrichen. Heftig schluckend nimmt sie den Bogen in die Hand und liest: „Unvorsichtiges Vorgehen. Es gibt optische, radarsehende und wärmesuchende Satelliten. Schneller zuschlagen, nicht zusehen. Ein Freund.“ Für zwei, drei Minuten starrt sie auf das Bild und das dürre Schreiben. Dann zieht sie die Tür auf und bemüht sich, sich nichts anmerken zu lassen. Als Willard Sanders und Ichigo Sakamoto das Anwesen betreten, will sie gerade hinauf in ihr Schlafzimmer – doch dann besinnt sie sich eines Besseren. „Ich muss in Oakland anrufen“, erklärt sie den drei Männern. Hiller will ihr das Telefon reichen, doch da erklärt Sakamoto plötzlich: „Moment!“ Er eilt zu der Kommode, auf der neben der Ladeschale des Telefons auch ein Funkempfänger steht. Er dreht an einem Regler – kurz Impulse sind zu hören. „Morsezeichen?“, fragt Sanders. Hektische Handbewegungen von Hiller und ein konzentrierter Blick von Sakamoto bringen ihn zum Schweigen. Esther runzelt die Stirn, während die Männer Folgen von Punkten und Strichen auf Papier notieren. Hiller ist etwas schneller in der Übersetzung in Buchstaben, doch der Text erscheint keinen Sinn zu geben. Esther sieht darauf und beißt sich auf die Lippen: „Da fehlen ein paar Buchstaben am Anfang. ‚ave a tender moment alone.‘ Billy Joel. Der neunte Song aus ‚An Innocent Man‘. Ankerplatz neun aus dem dritten Set an vereinbarten Treffpunkten. Vermutlich die ‚Tethys‘. Wir müssen…“ Sakamoto lächelt, aber das Lächeln verbirgt die große Entschlossenheit nicht ganz: „Sie müssen sich ausruhen, Howard-san. Sanders-san wird ihnen etwas zu Essen bestellen. Hiller-san und ich fahren raus und holen ab, was abzuholen ist.“ Esther stellt das Telefon in die Ladeschale, sie will protestieren, aber dann lässt sie es doch. „In Ordnung. Ich rufe aber erst in Kalifornien an, wenn ich weiß, welche Neuigkeiten Sylvain bringt!“
„Ames!“, meldet Liz sich barsch. In ihrem heimischen Arbeitszimmer sitzen neben ihr selbst auch noch Thomas Arden, Mai Sakamoto und Cristina Benitez. Als sie Esthers Stimme hört, wird ihr Ton sofort milder: „Endlich! Der dürre Anruf bei Tom, dass du wieder auf der ‚Charlotte‘ bist, scheint ewig her zu sein. Wir haben uns Sorgen gemacht!“ Tom gestikuliert, doch nicht Liz selbst, sondern Mai betätigt den Schalter für die Freisprechanlage. „…nicht ganz unberechtigt. Es ist einiges schief gegangen. Wir haben die ‚Aphrodite‘ verloren – und Anna Perkins. Aber wir sind nicht entdeckt worden, zumindest glauben wir das. Ich brauche aber dringend Informationen, Liz. Wirklich dringend. Drei Tage nach dem Gefecht zwischen uns und dem Walfänger, vielleicht fünfundfünfzig Stunden nach dem Sinken der ‚Aphrodite‘, kam hier per Kurier eine Fotokopie eines Überwachungsbilds eines Satelliten an. Es zeigt ein ‚unbekanntes dieselelektrisches Boot‘, den Walfänger und die Schiffe der Royal Australian Navy bereits in Reichweite. Per Post-It wurde es wohl als chinesisches Boot identifiziert.“ Arden beißt sich auf die Lippen: „Ist dieses Gespräch…“ Liz fährt ihn an: „Ja, zumindest, so gut es zivil geht. Halt die Klappe, Tom!“ Esther fragt nach, und Liz erklärt ihr, dass Mai, Cristina und Thomas ebenfalls da seien – und dass die Leitung sicher sei, Hiller und sie hätten eine end-to-end-Verschlüsselung des VoIP-Telefons arrangiert. „Okay“, fährt Esther fort, „dazu gab es ein Schreiben, das uns riet, schneller zuzuschlagen, auf die Satelliten zu achten und nicht aufgetaucht zuzuschauen, was passiert.“ Bevor Liz etwas sagen kann, schneidet Esthers Stimme erneut in die Stille, nun ist sie scharf: „Ich wollte die Japaner nicht elendig ersaufen lassen. Es sind mehr umgekommen, als ich das wollte. Wir waren da, sie eventuell zu retten.“ Keiner der vier sagt etwas, doch Esther selbst wird in diesem Moment erst richtig klar, dass eine Rettung der Seeleute des havarierten Walfängers gänzlich unmöglich gewesen wäre. Sie schluckt hart. „Egal, Leute. Habt ihr irgendwelche Kontakte, die vielleicht- dieser Freund sein könnten?“ Nachdem alle vier versprechen, sich umzuhören, kommt Liz auf das Thema Claire Howard zu sprechen. Esther nimmt sich eine Bedenkminute, dann hört man ihr Schulterzucken regelrecht: „Schick‘ sie auf meine Kosten nach Honolulu. Bessere Tarnung gibt’s nicht, als das Anbiedern mit der Verräterin am Clan.“ Die Runde um Liz‘ Schreibtisch blinzelt verwirrt über die Initiative. Liz fragt ungläubig: „Allein?“ – „Wen solltest du denn mitschicken? Liz, das Mädchen ist ein Jahr älter als ich, die kann allein fliegen.“ Tom Arden beginnt zu grinsen, doch das Grinsen fällt ihm sofort aus dem Gesicht, als Mai einwirft: „Ich könnte mitfliegen. Ich wollte eh meinen Vater besuchen.“ Dass sie Esther eben einen Bärendienst erwiesen hat, ist Liz Ames durchaus klar, aber beide Frauen machen gute Miene zum bösen Spiel. Mai näher an die Organisation zu bringen, hält keiner für eine gute Idee, erst recht nicht mit Claire Howard im Schlepptau. Aber nachdem Liz in sich und auch in Esther die Befürchtungen geweckt hat, was sich Claire allein auf dem Flug nach Hawaii alles zusammenreimen könnte, können sie nicht mehr zurück, selbst wenn sie riskieren würden, Mai vor den Kopf zu stoßen.