Folge 2.18: Gift

Ethan Cummings prüft ein weiteres Mal die Dichtheit des Kanisters – er dreht in herum, schüttelt. Corey und Marshall begutachten den Verschluss, während Ethan nach dem Schütteln das Gefäß mit dem Verschluss nach unten festhält. „Hält das auch unter hohem Druck?“, fragt Marshall, Ethan nickt und erklärt, dass die einzige Frage, die man sich stellen müsse, diejenige wäre, ob eine eingehende Untersuchung die zusätzlich eingebrachte Abdichtung im Gewinde der Deckel entdecken würde. Kommandant Marshall Wells zuckt die Schultern und bescheidet seinen beiden Besatzungsmitgliedern, dass dieses Thema nun einmal ein Risiko berge, aber das Zeug zersetze sich an der Luft quasi sofort in Monomere, schließlich habe Corey selbst diese Idee zur Absicherung gegen eine Umweltkatastrophe gehabt. „Deswegen sollten wir die Kanister auch unter Wasser lagern, bis wir sie den Fischern in die Netze spülen. Wir können ja das Wasser vor dem Aussetzen nochmal auf Gift- und Reststoffe untersuchen, in dem wir die Dinger aufbewahrt haben. Aber dieser Skandal muss ans Licht. Die waren nachlässig genug, dass wir das Zeug finden, wir heben das auf eine Stufe, auf der es nachlässig genug erscheint, dass die Fischer es mit Glück finden können.“ Sowohl Corey als auch Ethan stimmen zu, dann bringt Corey Callaghan den Kanister wieder in den Bottich im Frachtraum des Bootes. Ethan seufzt und erklärt, das sei ein ganz schön gefährlicher Stunt. Aber Marshall schüttelt den Kopf: „Ich will keine 688er jagen, ich will die US Navy nicht ärgern und auch sonst keine Marine. Aber an dieser Stelle hätte Corey recht, wenn er uns vorwürfe, dass wir es nicht tun. Das ist GENAU das, wegen dem Esther und Charles B. Howard diese Boote haben verschwinden lassen. Das ist unsere Mission – der zentrale Kern unserer Mission.“ Cummings seufzt und nickt, er gibt seinem langjährigen Kommandanten recht. Dass es ihm nicht gefällt, dem Glück von Fischern beim Herausfischen von versenkten Giftkanistern vor Los Angeles nachzuhelfen, ändert nichts an der Tatsache, dass er das, was sie damit bezwecken, uneingeschränkt unterstützt.

„Wir kommen jetzt arg nah an die Grenze des Sanctuary – Ruder hart steuerbord.“ Der Kapitän des kleinen Trawlers ist gelassen, aber missgestimmt, da sein neuer Steuermann all zu viel Zeit darauf verschwendet, die großen Pötte auf der anderen Seite der Channel Islands zu begaffen. Schließlich setzt er seine Lizenz auf’s Spiel, wenn sie in den Nationalpark Channel Islands eindringen. Das Boot dreht vom Ostkurs weg nach Süden, die drei Teilinseln von Anacapa wandern von backbord voraus nach achtern. Auf dem GPS berührt der Kurs des Schiffes die Grenze, jenseits derer sie nicht fischen dürfen, überschreitet sie aber gerade so nicht. Der Kapitän zerbeißt einen Fluch auf den Lippen – es ist zu knapp gewesen, um es einfach hinzunehmen, aber zu wenig sicher ein Verstoß, um den Steuermann ernsthaft zu tadeln. Dass ein Küstenwachboot auf der anderen Seite der Insel unterwegs ist, macht es nicht besser – denn wenn die Beamten nicht reagieren, er aber den Steuermann rügt… da wird sein Blick von etwas in den Wellen an steuerbord angezogen. Irgendetwas ist dort, schwarz, nass, glitschig, nur manchmal von den Wellentälern freigegeben…

„Bloody mess!“, entfährt es Ethan Cummings. „Warum dreht der so plötzlich!“ Corey Callaghan schluckt: „Wir sollten acht Fuß tiefer… wir werden sonst gesehen.“ Ärgerlich weist Ethan darauf hin, dass Marshall Wells „da draußen“ sei. Doch der faucht in das Mikrofon seines Anzuges, das über Kabel mit dem Boot verbunden ist: „Runter! Zwölf Fuß! Bewegt euch, verdammt!“ Das Boot senkt die Nase und sinkt etwas ab, es sind nicht nur die angeordneten knappen vier Meter, sondern fast acht. Corey fragt vorsichtig in den Funk: „Marshall?“ – „Alles in Ordnung. Ich sehe nun auch das Netz. Auf 167 gehen, aber nicht mit hart steuerbord, ganz sanft, als würdet ihr eure Freundin streicheln. Nicht so überkompensieren wie mit dem Tiefenruder, klar?“ Ethan und Corey wechseln schuldbewusste Blicke – die Rüge vom Kommandanten hält sie von gegenseitigen Schuldzuweisungen ab.“

„Das war’n kapitaler Wal, Skipper!“, staunt der Steuermann. Der Kapitän runzelt die Stirn, so ganz sicher ist er sich nicht, ob er einen Wal gesehen hat oder etwas anderes. In seinem Geist geht er verschiedene Wale durch, aber irgendwie will keine Beschreibung so recht auf das Objekt passen, das er in den Wellen gesehen hat – vor allem war es groß, sehr groß. Innerlich geht er gerade durch, wie oft er den vermeintlichen Wal gesehen hat und ob es vielleicht etwas anderes gewesen sein könnte, da hört er einen Alarm schrillen: „Netz sinkt ab – irgendwas stimmt nicht!“, ruft einer seiner Leute. Der Steuermann wirft ein, sie hätten vielleicht zu schnell gedreht, nimmt aber massiv Schub weg. Dass sie diesen kapitalen Wal aus Versehen gefangen haben könnten, und das fast unter den Augen der Küstenwache, hätte ihnen gerade noch gefehlt, nicht einmal eine Meile außerhalb des Channel Islands Sanctuary.

„Ruder steuerbord, Jungs. Aber noch nicht tiefer. Ich muss erst noch in die Schleuse.“ Marshall Wells zieht sich an der Leiter hinunter, klappt die noch offene Turmschleuse auf und zieht sich durch das Wasser in den schmalen, kleinen Raum. Dann dreht er sich umständlich herum, während das Boot schon beschleunigt – leichter macht es ihm das nicht, das Schott zuzuziehen. Aber er protestiert nicht, gibt auch keine anderen Anweisungen. Wenn das Boot der Küstenwache von der anderen Seite von Anacapa rechtzeitig auf einen Ruf des Trawlers reagiert und sein SONAR einschaltet, ist außerhalb des Bootes bleiben und vielleicht in die Schrauben treiben immerhin noch die schnellere Variante, statt sich den Befragungen zu stellen. Doch er schiebt die trüben Gedanken beiseite, zieht das massive Stück Metall herunter und dreht am Dichtungsrad, obwohl er nun gar nichts mehr sieht. Dann fordert er, dass die anderen ihm Licht machen. Die Innenbeleuchtung der Schleuse geht an – er checkt als erstes, ob er das Kabel für den „Funk“ eingeklemmt hat, aber es hat sich sauber wieder auf die Rolle gezogen, die in der Schleuse beginnt. Mit einem Knopfdruck aktiviert er die Pumpen und beobachtet kritisch den Dichtring oben an der Schleuse. Nach kurzem Pumpen ist der Raum halb mit Luft gefüllt, von oben tropft nur Restwasser vom Dichtrad herunter.

Als das Küstenwachboot mit dem Trawler längsseits geht, ist der Besatzung schon klar, dass sie nicht aus Versehen einen Wal aus dem Channel Islands Sanctuary herausgefischt haben – das wäre, realistisch betrachtet, auch nicht drin gewesen. Aber es IST etwas in den Netzen, die sie gerade einholen, und obwohl sie so nahe an den Inseln waren, scheint die Küstenwache eher interessiert an dem „Fang“ als an einer Rüge oder gar Strafe für die Fischer. Als sie das Netz hochziehen, stockt allen der Atem – den Leuten von der Küstenwache ebenso wie der Besatzung des Fischerbootes. Der Kapitän zerbeißt einen Fluch auf den Lippen, dann sagt er es doch: „Scheiße – Gefahrgut. Gift. In DIESEM Meer. Als würden Ölbohrplattformen und natürliche Ölquellen im Channel nicht reichen…“ Es dauert noch fast drei Stunden, bis die Giftbehälter sicher aus dem Netz entfernt wurden und bis klar ist, dass sie nicht ausgelaufen sind. Der Steuermann flüstert neben dem Kapitän, als das Küstenwachboot in Richtung Los Angeles abdreht: „Da waren noch Markierungen drauf. Vielleicht Absender, Empfänger oder Reederei. Da bekommt jemand RICHTIG Ärger.“ Der Kapitän nickt und starrt auf das langsam dunkler werdende Meer. „Mit Recht. Mit Recht… hoffentlich treibt da nicht noch mehr, wo wir das aufgegabelt haben. Ökonomisch war die Fahrt ein Fehlschlag. Langfristig ökonomisch und generell ökologisch war’s vermutlich die einträglichste Fahrt, die dieser Kutter je gemacht haben wird. Wenn das Zeug ausgelaufen wäre…“ Der Steuermann nickt. Dass sie vermutlich diese Tankcontainer nicht aufgegabelt hätten, wenn er nicht von großen Containerschiffen geträumt hätte, führt er wohlweislich nicht an.

Wie erstarrt verfolgt Liz Ames die Nachrichten. „Kubikmeterweise Insektenvertilgungsmittel, bereits in geringen Dosen und auch langfristig tödlich für alle Krustentiere. Bei den Channel Islands. Mein Gott!“, stöhnt Sato Senior. Liz flüstert geschockt, dass wohl wenigstens nichts ausgelaufen sei und dass die Küstenwache nach weiteren verlorenen Containern suche. Dann sieht sie auf ihr Telefon – entsetzte Textmitteilungen von Tom Arden, Cris Benitez und auch von ihren Klienten, den Schiffs-Sprayern, erscheinen auf dem Sperrbildschirm. Sie denkt gar nicht darüber nach, als Sato ihr ein Glas in die Hand drückt: „Auf rechtzeitige Funde.“ Abwesend erwidert Liz den Trinkspruch mit einem „Kanpai“ und muss dann mit Macht verhindern, sich zu schütteln – Sake hatte sie nicht erwartet. Dass ihr auch durch den Kopf geht, dass Aktionen der beiden U-Boote es nun schwer haben werden, in die Schlagzeilen zu schaffen, versucht sie sich nicht anmerken zu lassen. Dass Sato ein guter Beobachter ist, weiß sie, aber er lässt ihr Zeit, sich eine Ausrede für ihren nachdenklichen Blick einfallen zu lassen. Erst eine halbe Stunde später beugen sie sich wieder über die Fallakten.

Folge 2.17: Unter dem Wind

Will Sanders kommt gerade vom Joggen im Park des Anwesens, als er im Angestelltenflügel des Anwesens auf Mai Sakamoto trifft. Sie steht unschlüssig vor der Tür der Räume, die Kapitän Sakamoto bewohnt, als sie Sanders sieht, fragt sie: „Wo ist denn mein Vater?“ Sanders zögert, dann macht er sich klar, dass Mai inzwischen sehr gut über die Organisation Bescheid weiß. „Der Captain ist heute früh mit der ‚Charlotte‘ in Richtung Ni’ihau aufgebrochen. Es sind nur wenige Leute dort, aber auch die brauchen Essen und Sprit für den Generator.“ Dass die hübsche junge Japanerin nur mit einem Nicken bestätigt, enttäuscht Will. Auch wenn ihm klar ist, dass er wohl eher wegen seiner Verbindung zur Organisation auf eine Konversation hätte hoffen können, bemüht er sich nicht allzu sehr, seine Enttäuschung zu verbergen, und Mai reagiert darauf: „Gibt es schon Kaffee?“ Will schenkt ihr sein charmantestes Lächeln und erklärt: „Ich bin zwar nur der Sunnyboy für Park und Fuhrpark, aber ich kann die Espresso-Maschine bedienen. In zwanzig Minuten auf der Terrasse des Haupthauses – was möchtest du, Espresso, Latte Macchiato, Cappuchino…?“ Mai lächelt und bestellt einen Latte Macchiato. Noch während sie entlang des Pools zurück zur Terrasse des Haupthauses schlendert, fragt sie sich, ob Sanders ihr Kaffee machen oder mit ihr Kaffee trinken möchte. Doch dann kommt ihr in den Sinn, dass Sanders einen ähnlich jungenhaften Charme hat wie Corey Callaghan – nur eben ohne das fanatische Glitzern in den Augen. Was ihr Vater zu diesen Gedanken sagen würde, weckt Trotz in ihr, aber dann schiebt sie die Überlegungen weg: Sie muss ohnehin auf dem Anwesen ausharren, Sanders ist sicherlich die unverfänglichste, netteste Gesellschaft, und trotz des Schnurrbarts hat sein offenkundiger Applaus für ihr Aussehen für sie nichts Gruseliges an sich, zumindest sofern er es darauf beschränkt, ihre Anwesenheit zu genießen. Dass sie damit leben kann, bringt sie zum Schmunzeln über sich selbst.

Claire Howard sieht John Hiller halbwegs fasziniert über die Schulter, während der Brite die Espressomaschine im Barraum des Haupthauses bedient. Dann dreht er sich auf dem Absatz und reicht ihr das Tässchen. „Ihr Espresso, Miss Howard.“ Claire schnuppert an der Crema, dann schüttelt sie den Kopf: „Wie in dem italienischen Café um die Ecke der medizinischen Fakultät. Ich habe mich nie so genau danach gefragt, wie das eigentlich geht.“ Hiller hebt eine Braue: „Eine Siebträger-Maschine erfordert eine gewisse Übung. Mahlgrad und Anpressdruck müssen abgestimmt sein, zudem die Temperatur. Dies gilt für jede Röstung und Bohnenmischung separat. Aber man kann das erlernen – selbst mit britischer Herkunft.“ Der blasierte Sarkasmus bringt Claire zum Grinsen, Hiller bemerkt es und zwinkert ihr zu. Nach einer Kunstpause fragt er: „Miss Howard, erlauben sie mir eine Frage?“ Sie erwidert, natürlich, er könne gerne fragen, was er möchte. Aber er solle sie doch duzen, sie komme sich irgendwie komisch vor, wenn man sie „Miss Howard“ nenne. Kurzerhand macht sich Hiller auch selbst einen Espresso, gesellt sich zu Claire an die dunkle Theke, die offenbar für Parties im Raum platziert wurde, und fragt sie nach ihrem Medizinstudium aus. Dass Claire mit „Miss Claire“ nicht wesentlich glücklicher ist als mit „Miss Howard“, lässt sie sich erst einmal nicht anmerken – aber sie fragt sich schon, ob die Förmlichkeit der wahre Habitus von John Hiller ist oder nur eine Maske. Überhaupt kommt sie sich vor, als hätte das ganze Haus ein Geheimnis vor ihr, aber sie tut dieses durchaus berechtigte Gefühl als Paranoia ab. Beide grüßen Sanders nur flüchtig, als er frisch geduscht in offenem, ungemustertem Hemd und Shorts hereinkommt, einen Latte Macchiato und einen Espresso bereitet und sich dann anschickt, die Milchlanze zu reinigen. Hiller lächelt: „Lass nur, Will. Ich höre Mrs. Howard schon auf der Treppe, sie möchte Cappuchino.“ Sowohl Will als auch Claire sind merklich verwundert – Sanders wundert sich, dass Hiller in Gegenwart von Claire ihm gegenüber nicht den pedantischen Briten markiert, und Claire staunt über den informell-vertrauten Ton zwischen den beiden. Doch dann geht Will Sanders mit einem Tablett, auf dem er Gebäck und beide Kaffees arrangiert hat, in Richtung Terrasse, und Esther kommt aus der Halle in den Raum. Das Gespräch mit Claire so weit möglich fortführend, macht sich Hiller sofort daran, der noch etwas verschlafen wirkenden Esther einen Cappuchino zu bereiten.

Auf der Terrasse sitzt Mai in Bikini-Oberteil und als Rock um die Hüften geschlungenem Batiktuch auf einem der Liegestühle am Pool. Will hält mit dem Tablett inne, um mit sich selbst auszumachen, ob er die Aufmachung als Aufforderung interpretieren soll, ruft sich dann aber zur Ordnung. Egal, ob sie ihn damit provozieren will, sich nichts dabei denkt oder gar tatsächlich auf seine Blicke eingeht, erstens ist sie zu jung für ihn und zweitens ist ihm klar, dass Ichigo und auch Esther kaum damit einverstanden wären, dass er ihr Avancen macht. Er nimmt rittlings mit Blick Richtung Haus auf einem zweiten Liegestuhl Platz und stellt das Tablett auf dem Tischchen zwischen Mai und sich ab. Sie schiebt die Sonnenbrille in die Haare und lächelt ihm zu: „Danke. Sehr charmant.“ Dass sie einen Blick auf sein offenes Hemd und die so sichtbaren Bauchmuskeln wirft, entgeht ihm nicht, er quittiert es mit einem schelmischen Grinsen: „Dir ist schon klar, dass dein Vater mich vor Big Island den Haien zum Fraß vorwirft, wenn ich mit dir zu flirten versuche – und Esther wird sehr wahrscheinlich fürchten, dass ich dich in Coreys Arme treibe.“ Mai blinzelt überrascht und setzt sich dann auf. Sie zögert, nippt am Strohhalm, den er in den Milchschaum gesteckt hat, und antwortet dann doch recht gelassen: „Ich hätte erwartet, dass du das mit dir selbst besprichst und mich im Unklaren lässt, damit ich mich weiter unbefangen in deiner Gegenwart bewege.“ Will grinst und erklärt, ihre Reaktion sei sowas von nicht japanisch. Aber er sei nicht Thomas Magnum, der innere Monologe führe, und er glaube, dass Unbefangenheit eher aus Klarheit denn aus vagen Annahmen resultiere. Mai pflichtet ihm bei und bekennt, dass sie einen Versuch seinerseits vielleicht wirklich als Trotz-Ausrede genutzt hätte, ’nach Ni’ihau‘ zu gehen, wie sie es ausdrückt, auch wenn sie es nicht so geplant habe. Wo das nun geklärt sei, könne er ihr – mit seinen eigenen Hintergedanken, das sei ihm überlassen – den Rücken eincremen, und sie könnten weiter genießen, dass sie beide nichts Sinnvolles auf dem Anwesen tun könnten. Sanders denkt sich seinen Teil zu dieser Aussage, geht aber auf den Deal ein. Dass er sehr wohl eine Funktion auf dem Gelände hat, lässt er großzügig unter den Tisch fallen – schließlich ist ihm der andere Teil des Deals gerade recht: Erklärt chancenlos, um keinen Ärger zu erzeugen, aber eben doch in Mais angenehmer Gesellschaft, das macht es ihm leichter.

Esther hat die Hände um die Tasse geschlungen, ihr ist deutlich anzusehen, dass sie schlecht geschlafen hat. Claire fragt mitfühlend: „Erinnert es dich wieder neu an meinen Vater, dass ich nun hier bin?“ Esther schüttelt den Kopf, bemüht sich dann aber, es wie ein sich Schütteln wegen der Müdigkeit aussehen zu lassen. Das sei vielleicht der Grund, erklärt sie wenig überzeugend. Hiller hebt eine Augenbraue, mehr tut er nicht. Aber Esther versteht durchaus, dass ihr Versuch einer Täuschung dünn ist. Also zuckt sie nochmals die Schultern und erklärt: „Kann schon sein. Vielleicht auch nicht. Geträumt habe ich nicht von Charles.“ Claire saugt die Lippen zwischen die Zähne und knetet sie, dann fragt sie: „Soll ich wieder nach San Francisco fliegen? Es gibt hier irgendwas, das ihr alle wisst – und ich soll es nicht wissen. Ich respektiere das, aber vielleicht wäre es einfacher, wenn ihr eure Ruhe vor mir hättet?“ Esther lehnt vehement ab, nippt an ihrem Kaffee und scheint mehrfach etwas sagen zu wollen, entscheidet sich dann doch anders. John Hiller beschließt, für Ablenkung zu sorgen und fragt höflich, ob er sich die Nachrichten ansehen könne – er wolle gegebenenfalls noch mit Kaffee oder anderen Dingen für Esther und Claire zur Verfügung stehen, also werde er wohl bei den beiden bleiben, aber ihn interessiere, ob es etwas Neues auf der Welt gäbe. Weder Claire noch Esther haben etwas dagegen, da Claire Esther nicht unterbrechen möchte – und Esther keinen Ansatzpunkt findet, wie sie nicht erzählt, was los ist, aber eben doch auch Claire das Gefühl nehmen kann, nicht willkommen zu sein. Als Hiller den über der Theke angebrachten Fernseher anschaltet, dauert es nur Sekunden, dann starren beide Frauen wie elektrisiert auf das Gerät. Von Piratensendern, die Umweltsünden anprangern und in halb Alaska auf Frequenzen großer Radio-Sender zu hören sind, berichtet der Sprecher. Auf dem Newsticker am unteren Bildrand läuft eine Nachricht über diplomatische Spannungen zwischen China und Peru, da ein peruanischer Fischtrawler-Kapitän in internationalen Gewässern vor der Westküste Südamerikas einen chinesischen Kapitän erschossen haben soll, als ein Streit über abgeschnittene Schleppnetze eskalierte. Der Sprecher geht nach der Nachricht aus Alaska auf einen Frachtschiff-Stau in der Juan-del-Fuca-Strait ein, fünf Schiffe seien von Schleppnetzen unbekannter Herkunft in den Schrauben lahmgelegt. Dass danach noch über Umweltsünden anprangernde Leuchtschriften auf Tankern in der San-Francisco-Bay-Area berichtet wird, entgeht Claire und Esther. Es kostet die Milliardärswitwe einige Mühe, ihr Entsetzen über die Verbindung zu verbergen, die Claire zieht: „Was, wenn jemand die Schleppnetze von Trawlern nimmt und damit Tanker oder Containerschiffe lahmlegt?“ Hiller merkt an, dass die Netze von der Küste von Peru schon mit Flugzeugen an die kanadisch-US-amerikanische Grenze geflogen werden hätten müssen, um für den aktuellen Vorfall verantwortlich zu sein, aber Claire geht es eher um ein Konzept als um die konkrete Verbindung – zumal der Vorfall vor Vancouver und Seattle vor dem eskalierten Streit vor Peru stattfand. Mit hörbarer Bewunderung in der Stimme sagt sie: „Das trifft keine Unschuldigen – und genau da, wo es wehtut. Bei Geld und Publicity.“ Esthers Blick geistert nachdenklich zum Bildschirm – und dann weiten sich ihre Augen.

Folge 2.16: In der Tiefe

Auf den beiden Trawlern herrscht helle Aufregung. Wütend gestikuliert ein Mann an der Reling des einen Fischfang-Schiffes und brüllt über 10 Meter Wasser hinweg auf einen ein, der auf dem anderen Schiff steht und nicht minder aufgebracht ist. Keiner von beiden bemerkt über den Streit, den sie zuvor schon per Funk geführt haben, dass fast zwei Seemeilen entfernt etwas aus den langgezogenen Wogen herausragt.

Corey Callaghan starrt fasziniert durch das Periskop. Er bringt damit Marshall Wells in eine Zwickmühle – einerseits ist der Triumph, den Corey empfindet, sicherlich der Beruhigung innerhalb der Truppe förderlich, andererseits… „Corey, lass‘ gut sein. Das Problem am Periskop ist, dass wir dazu neigen, uns die Welt ein bisschen zu lang anzuschauen.“ Ethan Cummings wird sich des Blicks seines Kommandanten bewusst, nachdem er diese Worte ausgesprochen hat. Das seltsame Changieren zwischen Applaus und Tadel irritiert ihn, aber er denkt nicht einmal daran, Marshall vor Corey zu fragen, was den Zwiespalt auslöst. Corey nickt: „Klar, wollen ja nicht auf Satellitenfotos erscheinen.“ Er betätigt einen Knopf, fast im selben Augenblick sinkt das Deck leicht vornüber und die „Nereide“ gleitet in die Tiefe des Atacama-Grabens. Zehn Schleppnetze gehören zur Beute – je drei haben sie bei dem chinesischen und dem peruanischen Trawler abgeschnitten, deren Streit Corey im Periskop beobachtete. „Irgendwann werden sie auf die Idee kommen, dass es jemand anderes war, der ihre Netze abgeschnitten hat“, erklärt Marshall, als das Boot in Richtung Westen abdreht und sich wieder von den fischreichen Regionen hinaufsteigenden, kalten Tiefenwassers entfernt. Plötzlich schnalzt Corey mit der Zunge – Ethan und Marshall schauen ihn irritiert an. „Ich hab‘ eine Idee!“, erklärt sich der Chemiker. Die beiden Ex-Militärs schenken ihm nun volle Aufmerksamkeit. Grinsend legt Corey ihnen dar, was er sich überlegt hat – Ethan hebt eine Braue, Marshall kommentiert: „Nicht übel!“ Dass er von den beiden Briten nicht mehr Anerkennung bekommen wird, ist dem Amerikaner bewusst. Dass es ihm dennoch irgendwie zu wenig vorkommt, kann er aber auch nicht verhindern. Wells lässt einen Kurs setzen, der die „Nereide“ fernab der Küsten durch das Peru-Becken bis zu den Galapagos-Inseln führt, von wo es dem Ostpazifischen Rücken folgen soll – um kurz vor Acapulco Kunststoff zu fischen und die Schleppnetze an die Strände anzulanden. „Danach gehen wir deinen Plan an, Corey. Weckt mich, wenn was Ungewöhnliches passiert. Einigt Euch, wer auch schlafen geht, ich löse in sechs Stunden ab.“, erklärt Wells. Ethan überlässt Corey die kommende lange Freiwache, mahnt aber noch: „Schlaf lieber. Das wird langweilig, aber man muss auf den Punkt wieder hellwach sein, wenn was ist.“ Corey nickt und gähnt – er widerspricht nicht, sondern verschwindet in seine Koje.

Auf der „Tethys“ herrscht Hochstimmung. Nicht nur, dass in der Juan-del-Fuca-Strait sieben Tanker antriebslos auf Hilfe warten, lässt die Besatzung Begeisterung empfinden – nein, sie haben die Waffen des kleinen Bootes gar nicht gebraucht, da ein paar Schleppnetze und ein Haufen treibender, recht großer Müll auf der Fahrt von San Francisco in Richtung Norden in ihre Hände fiel. Dieses Material haben sie unter den Schiffen freigesetzt und so deren Schrauben und Ruder blockiert. Marc Walters prostet Carmen Ochoa Sanchez und Sally Marsh mit einem Becher zu, in seinem ist Sekt, Carmen und Sally halten sich an Wasser – genau wie Sylvain Chartrand. „Neun Versuche, sieben Erfolge!“, erklärt Sylvain mit erhobenem Becher. Dann trinkt die Besatzung des Bootes gemeinsam. Die Konflikte in der Truppe scheinen vergessen, während das Boot tief unter der Wasseroberfläche bereits die Südgrenze des Alaska Panhandle passiert. Die ganze Truppe konzentriert sich auf die drei Frauen – Sally, Carmen und eine weitere – und plötzlich wird Marc deutlich ruhiger. Sally wirft einen fragenden Blick zu Sylvain, dieser nickt, woraufhin Sally dem jungen Mann nach vorne in Richtung Frachtraum folgt. Zwischen den präparierten Piratensender-Bojen setzt er sich auf das Deck und lehnt sich an eine der kalten Bojen. Tränen laufen über sein Gesicht, Sally wartet einen Moment, doch dann tritt sie zu ihm heran und legt ihm den Arm um die Schultern. „Hey… du vermisst sie, nicht wahr?“ Er nickt, müht sich, die Tränen zurückzuhalten, aber es gelingt ihm nicht. Als er begreift, dass er Sally ohnehin nichts vormachen kann, gibt er sich seinem Schmerz hin. Ihre tröstenden Worte verändern nichts, aber er wird ruhiger, dann flüstert er: „Anna hätte diese Aktion geliebt. Aber ich kann ihrem Andenken und auch dir nichts vormachen, Sylvain genauso wenig. Auf Dauer wird das hier nicht reichen. Die Bojen sind eine neue Qualität, freilich, aber diese Boote sind für etwas gemacht, das ihnen wirklich wehtun würde, und es gibt mehr als nur Corey und mich, die das wollen.“ Sally erklärt leise: „Wir tun ihnen schon jetzt weh. Wir werden weitere Wege finden. Wir sollten nur nicht zu viel riskieren, nicht nur wegen unserer Entdeckung, sondern auch wegen unseres Seelenfriedens.“ Die geringe, fast nicht vorhandene Überzeugungskraft, die ihre Worte bei ihm entwickeln, lassen sie innerlich frieren, aber sie lässt es sich nicht anmerken.

Dorothy Howard mustert Tom Arden, als wolle sie ihn fressen. Der Ingenieur steht im Konferenzraum in der obersten Etage der Konzernzentrale und soll über die Projektfortschritte berichten. Charles Junior und auch Nicolas sind nicht anwesend, sie haben wohl andere Pläne, aber Colette Williams ist anwesend, ebenso Liz Ames und einige hochrangige Mitarbeiter von Howard Industries. Da Dorothys Sekretärin keine Sicherheitsfreigabe hat, serviert Cristina Benitez Kaffee und kümmert sich auch ansonsten um alles – Dorothy verdaut noch immer die Erkenntnis, dass Benitez eine Sicherheitsfreigabe hat, die das gesamte Projekt umfasst. Tom beginnt mit einigen Spezifikationen, erklärt, was sie geändert haben und welche Auswirkungen das haben sollte. Dorothy rollt mit den Augen, sie will gerade verlangen, dass Tom zum Ergebnis und der Schlussfolgerung vorspringt, da stellt einer der Mitarbeiter aus der Unternehmensführung eine technische Frage. Resigniert lehnt Dorothy sich zurück und zieht die L.A. Post heran, nimmt sie hoch und schlägt die Zeitung auf. Sie bekommt nicht mit, wie Tom hart Luft einsaugt und den Faden bei der Antwort auf die Frage aus dem Publikum verliert, als er die Schlagzeile liest: „Nun auch Acapulco! Abgeschnittene Schleppnetze voller Plastikmüll am Traumstrand.“ Dorothy vertieft sich eher in den Artikel auf der vierten Seite, über wegen Netzen, Müll und Containern in den Schrauben festsitzende Tanker und möglichen Mangel an Nachschub für die Produktion von Howard Industries. Erst als Tom zum Schluss kommt, wird sie wieder aufmerksam: „Die ersten Bläschen kollabieren bei 39 bar, völliger Verlust der Dämpfungseigenschaften tritt bei 42 bar ein. Die Regeneration ist ausbaufähig, bei 33 bar haben wir wieder voll ausgebildete Superrubber-Eigenschaften. In 100 Zyklen verloren wir etwa zehn Prozent der Bläschen endgültig, nach weiteren 100 Zyklen waren es weitere zwölf Prozent der verbleibenden. Wir haben eine Berichtsvorlage verfasst – und wenn der Vorstand einverstanden ist, wäre das ein Zwischenbericht an die Navy.“ Auf die Frage hin, ob man damit das Navy-Projekt erfüllt habe, druckst er herum und erklärt dann mit vielen Worten, dass das nicht unbedingt gegeben sei, aber es Interpretationsspielraum bei den Spezifikationen gebe. Man könne sicher diskutieren, ob das Ziel erreicht sei, aber ein Zwischenziel sei sicher erreicht. Dorothy zuckt die Schultern: „Verkaufen wir’s ihnen doch als das Beste, was wir haben und gucken, ob’s ihnen reicht. Nach dem Pareto-Prinzip wird’s nicht mehr viel besser, wenn wir nicht unmäßig viel mehr Ressourcen hineinstecken.“ Liz Ames versteckt ihre verächtliche Miene hinter der Kaffeetasse, Tom Arden guckt, als habe er in eine Zitrone gebissen. Aber Dorothy ist der Perfektionismus ihrer „Wissenschaftler“ völlig egal, schließlich müsse Howard Industries Geld verdienen.

„Mann, das war echt knapp“, schluckt Corey Callaghan. Wells nickt, er artikuliert mit bemerkenswert wenig britischem Understatement, dass Corey und Ethan sehr schnell und richtig reagiert hätten. „Nereide“ dümpelt im Golf von Kalifornien in der Höhe von La Paz, ganz langsam beruhigen sich die Gemüter wieder. Sie waren bereits auf dem Weg zurück in die Weiten des Pazifiks, als im Sonar ein leises, ungewohntes Geräusch auffiel – Ethan ließ sofort den Antrieb stilllegen und lauschte. Dann schlichen Corey und er leise und langsam weg, um die Südspitze von Baja California herum in den Golf – denn nichts anderes als ein Jagd-U-Boot der 688-Klasse war es, das sie gehört hatten. Zwei, dreimal hatte der irritierte Sonar-Mann des US-Navy-Bootes sogar nach ihnen gepingt, aber der Howard-Industries-Superrubber hat sie gerettet. Inzwischen sind sie sich allerdings sicher, dass das Atom-U-Boot entweder Richtung San Diego oder westlich in den Pazifik verschwunden ist, denn sie haben drei Tage gewartet. „Wir sind nicht unverletzlich“, erklärt Ethan. Corey nickt: „Deswegen müssen wir schnell zuschlagen und verschwinden.“ Dass Ethan Cummings und Corey Callaghan dabei unterschiedliche Missionen im Kopf haben, thematisieren sie nicht. Aber Wells macht sich seine eigenen Gedanken – und als er in seiner Koje liegt, während Ethan Cummings die „Nereide“ schleichend zurück in Richtung offenem Ozean bringt, flüstert er gegen den Stahl der Bordwand: „Verdammt. Ich hatte gehofft, er wäre euphorisch genug, es zu vergessen.“

Die „Tethys“ fährt mit mäßiger Fahrt die Alëuten entlang, jeder an Bord würde gerne hören, was die Sonden senden – aber Sylvain lässt ganz vorsichtig sein Boot erst einmal in Richtung Russisch-Fernost fahren, bevor er sich nach Hawaii wenden will, und hält das Boot getaucht, immer knapp unter der Schicht kalten Oberflächenwassers im Bereich. Das 4,5 Grad Celsius kalte Meer lässt auch die Luft und die Bordwände der „Tethys“ kühl wirken, und Sally zieht die drei Schichten Kleidung nur noch aus, wenn Sylvain mit ihr die Koje teilt. Aufgrund der Alarmbereitschaft, in der das Boot hier an den Grenzen der Operationsgebiete russischer, chinesischer und amerikanischer U-Boote stets ist, bekommt sie nicht oft Gelegenheit, sich von ihm wärmen zu lassen. Immerhin lässt der Nervenkitzel Marc Walters seine Trauer und seine Wut für den Moment vergessen, aber Sally kann nicht umhin, sich auf das warme, weite Anwesen auf Oahu zu freuen. Das schlechte Gewissen, sich darüber zu freuen, während Sylvain und die anderen auf Ni’hau in der vor den Eingeborenen verborgenen Höhle oder in den engen Booten auf Einsatz bleiben müssen, setzt ihr zu, so sehr Sylvain es ihr auch ausreden möchte.

Folge 2.15: Einzug

Willard Sanders hält sich dezent im Hintergrund, er trägt nur Claires Gepäck von der Tiefgarage hoch und dann weiter ins Gästezimmer.John Hiller deutet eine Verneigung an: „Miss Howard – willkommen auf dem Anwesen. Es ist eine Freude, sie hier begrüßen zu dürfen.“ Claire schluckt – sie hat nur wenig Worte, das Anwesen beeindruckt sie. Der subtropische Garten, teils in japanischem Design, teils klassisch europäischer Park, der den Großteil des weitläufigen Grundstücks einnimmt, hat sie schon staunen lassen. Aber das Haus, das durch die natürlich aussehenden Materialien, die Fusion aus westlich-klassizistischem, fernöstlichem und hawaiianischem Stil von außen weit kleiner wirkt, als es tatsächlich ist, macht aus dem Staunen fast schon ein Eingeschüchtertsein. Esther lächelt ihrer Stieftochter zu – sie denkt das Wort „Stieftochter“ und das Lächeln geht in ein Grinsen über, da die Medizinstudentin Claire tatsächlich ein Jahr älter ist als Esther selbst: „Wie gefällt es dir?“, fragt sie, nachdem die Führung im Erdgeschoss abgeschlossen ist. Claire schüttelt ungläubig den Kopf: „Wow. Ein Kinosaal, ein dekadentes Wohnzimmer, und doch hat alles etwas gemütlich-improvisiertes an sich. Der Pool ist herrlich… und das hat Charles B. Howard für meine Mutter entworfen?“ Esther konkretisiert, Charles habe es für Isabelle Lagarde entwerfen lassen, nicht selbst entworfen, Claire tut das aber als Spitzfindigkeit ab. Esther zwinkert ihr zu: „Dann will ich dir mal das Obergeschoss zeigen – dabei fällt mir ein: Wir haben nur zwei Gästezimmer im Haus. Sally, Mai und du sollten sich noch einigen, wer eines allein bekommt. Sonst müsste eine von euch im Gartenhaus Quartier beziehen.“ Während sie die Treppe hinauf gehen, erklärt Esther auf Claires Frage hin, es gäbe vier Schlafzimmer im Gartenhaus, der Eindruck, den der Begriff „Gartenhaus“ suggeriere, sei eigentlich falsch. Vor allem sei es gebaut worden, um den kompakten Eindruck des Haupthauses nicht mit zu vielen Gästezimmern zu verwässern. Tatsächlich seien die Gästezimmer mit den jeweiligen Badezimmern im Gartenhaus genauso groß wie die Zimmerfluchten für die Gäste im Haupthaus. Diese Räume bringen Claire wieder zum Staunen – Bodenbeläge aus weich wirkendem, angeraut geschliffenem Holz, helle Wände aus Holz, breite, vom Boden bis zur Decke reichende Fenster und großzügige, luxuriöse Betten und Sanitäranlagen. Sehr vieles besteht aus warmem Holz oder Bambus, im feuchten Milieu wasserfest lackiert, aber es steckt modernste Technik darin. Claire erklärt leise, als sie wieder auf dem Gang sind: „Das ist ja unglaublich schön. Vermutlich kann ich mir lässig so ein Zimmer mit Mai teilen – sie hat neulich schon wieder bei mir auf dem Sofa in San Francisco geschlafen. Die Aussicht ist vermutlich besser als im Gartenhaus, oder?“ Esther nickt und lächelt. Dann öffnet sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer – sie muss Claire nicht erklären, dass es Charles B. Howards Zimmer ist, das er für sich und Isabelle designen ließ und mit Esther gemeinsam bewohnte. Claire stockt der Atem, sie ist sprachlos. Vor ihr breitet sich ein großer, ovaler Raum aus. Der Boden ist aus hellem, angerautem Holz, er endet an einem Geländer aus Säulen, das die eine lange Hälfte des elliptischen Raumes einnimmt, über den Park hinweg sieht man direkt zum Meer. Die hölzerne Decke ist etwas dunkler als der Boden, changiert ganz leicht ins Blaue, als setze sich der Himmel in der Decke des Raumes fort. Die hausseitige Wand, die andere lange Seite der Ellipse, wird von getäfelten Türen eingenommen – wahrscheinlich Schränke. Zwei sind geöffnet, hinter einer sind Kleider aufgehängt, in der anderen ist eine kleine Theke eingebracht – auf der Rückseite der Türen sind Spiegel zu erkennen. Der einzige sichtbare, mitten im Raum befindliche Einrichtungsgegenstand ist ein großes, rundes Bett, schwarz bezogen, mit einem runden Baldachin darüber. Moskitonetzartige Vorhänge sind hochgerafft. „Riesig“, flüstert Claire, aber es schwingt weit mehr als nur Bewunderung für die schiere Größe des Raumes mit. Esther lächelt und erklärt, es fühle sich wie ein Nest direkt über der Steilküste an. Die offene Seite zum Park und zum Meer hin könne mit durchgängigen Glasscheiben geschlossen werden, meist verzichte sie aber darauf – und hinter den hölzernen Türen auf der Innenseite verbärgen sich der Zugang zum Badezimmer, Schränke, eine Bar und einige Möbel, die man in den Raum ziehen könne. Claire schluckt: „Das hätte Mama gefallen. Da bin ich sicher.“ Esther beschließt, sie nicht gleich noch mit dem dekadenten Höhlenbad unter dem Haus zu schocken, ermutigt sie, Bilder zu machen und ihrer Mutter zu schicken und fragt, was Hiller denn für sie zum Abendessen vorsehen solle. Claire braucht einige Momente, um sich zu fassen, dann bittet sie um ein vegetarisches Abendessen. Esther zieht sich zurück, um Hiller die Weisung zu überbringen, während Claire das Zimmer bewundert.

Als Ichigo Sakamoto und seine Tochter Mai auf dem Anwesen ankommen, ist die Spannung zwischen beiden deutlich zu spüren. Sanders beißt sich auf die Lippen, als er den beiden beim Transport von Mais Gepäck aus der Tiefgarage nach oben behilflich ist. Als Esther sich in der Halle zu Vater und Tochter gesellt, bemühen beide, sich die Spannungen nicht anmerken zu lassen – weitgehend erfolglos, trotz der japanischen Disziplin, die beiden zueigen ist. Esther lächelt plötzlich entwaffnend, nachdem sie Mai umarmt hat, und erklärt trocken: „Spart euch das auf, bis es akut wird. Erstmal sitzen wir alle hier – mit Claire. Solange sie hier ist, kann höchstens Sally sich loseisen. Mai, du weißt, wie ich dazu stehe, aber Corey hat dir nun einmal davon erzählt. Ich bitte dich, es dir zu überlegen – ich setze dir gelegentlich die Gründe auseinander. Aber nicht, wenn Claire jederzeit auftauchen kann.“ Ichigo wirft Esther einen erstaunten, im ersten Moment säuerlichen, dann aber dankbaren Blick zu. Mai blinzelt, dann nickt sie: „Hai.“ Sie denkt kurz nach, dann fragt sie: „Ist Sally denn schon wieder hier?“ Esther schüttelt den Kopf: „Vermutlich Santa-Barbara-Channel im Moment. Aber Sylvain würde vorziehen, dass sie nach der Mission erstmal hier bleibt. Wir werden gezwungen sein, erstmal alle gemeinsam hier Spaß zu haben.“ Mai nimmt das wenig begeistert hin, wechselt dann aber das Thema: „Was tut Claire?“ Esther schmunzelt und erklärt, ihre Stieftochter sende wohl gerade Fotos von Charles B. Howards Lusthöhle, eigentlich gebaut für Isabelle, an ebendiese. Doch irgendeine Erinnerung an den verstorbenen Charles kommt dadurch hoch – Esthers Blick verdüstert sich und sie verlässt die Halle durch das Wohnzimmer in Richtung Terrasse. Ichigo kümmert sich um das Gepäck seiner Tochter, während er ihr auseinandersetzt, dass Sally inzwischen mit Sylvain liiert sei. Erst, als Mai diese Entwicklung gebührend bestaunt hat, fällt ihr auf, dass ihr Vater einfach so den Teil ihres Gepäcks nach oben getragen habe, um den sich nicht Will Sanders gekümmert hat. „Da tut er sonst nie!“, sagt sie zu sich selbst, aber erst, als er das Zimmer verlassen hat. Dass das damit zusammenhängen könnte, dass er sich Sorgen um ihre Sicherheit macht und darüber, dass sie sich der Organisation anschließen könnte, kann sie nicht ganz aus ihren Gedanken heraushalten. Aber eigentlich will sie nicht an die Oberfläche ihrer Gedanken lassen, dass weder die eine noch die andere Sorge unberechtigt ist.

John Hiller ist damit beschäftigt, Frühlingszwiebeln akribisch zu putzen und zu zerlegen, als sich Will Sanders mit einem Tumbler in der Hand an die Küchenzeile lehnt. Der ältere Mann trägt Hemd und lange Stoffhose, Sanders hat ein Hawaii-Hemd offen übergeworfen und trägt dazu Shorts. Hiller sieht kurz auf, schneidet dann weiter und fragt, ohne Will anzusehen: „Wo haben sie Miss Howard untergebracht?“ Will erklärt, dass das noch nicht ausgemacht sei, vorerst sei aber Claires Gepäck in Mais Zimmer im Haupthaus, oder Mais Gepäck in Claires Zimmer im Haupthaus, so genau könne man das nicht sagen. Dann fragt er, ob Hiller auch einen Gin Tonic wolle. Hiller lehnt ab, bittet aber um einen Scotch, während er weiter schneidet. Als Ichigo die Küche betritt, denkt Hiller zuerst, es sei Sanders, der mit dem Scotch zurückkehre: „Sie haben hoffentlich ein anständiges Glas genommen, Willard…“ Dann bemerkt er seinen Irrtum und entschuldigt sich. Sakamoto lächelt: „Das macht gar nichts, Hiller-san. Ich denke gerade darüber nach, ob ich es ungewöhnlich finde, dass ich im Dienstbotenflügel wohne, meine Tochter dagegen im Haupthaus.“ Hiller fragt, ob es denn ausgemacht sei, dass Sally – er spricht allerdings von „Miss Marsh“ – ein Zimmer allein behalte. Der Kapitän erklärt, er gehe fest davon aus. Als Will zurückkehrt, lächelt er: „Scotch, Ichigo-kun? Oder lieber Gin Tonic?“ Hiller kommentiert, sie hätten auch passablen Sake – und darauf geht Ichigo ein. Er kommentiert, wenn Hiller einen Sake „passabel“ nenne, sei das wohl ein großes Lob. Als Will Sanders abermals die Küche betritt, nun mit Sakamotos Drink, hat Ichigo die Regie bei der Miso-Suppe übernommen, Hiller schneidet Paprika mit militärischer Präzision. Dann stoßen die drei mit ihren Drinks an. „Kanpai“, kommt es von Hiller, Sakamoto wirft ihm ein „Cheers!“ entgegen – und Sanders steuert ironisch ein „Santé!“ bei. Hiller erklärt zunächst, dass es eigentlich „A votre Santé!“ heißen müsse, dann schickt er Sanders den Grill anheizen und für Teppan-Grill-Gerichte vorbereiten. Dann lässt Hiller sich darüber aus, dass sich Will scheinbar nur die Trinksprüche verschiedener Sprachen aneigne. Er habe ihm bereits auf Hebräisch, Kantonesisch, Spanisch und sogar Ungarisch zugeprostet, an Konversationswortschatz jedoch sei er ganz offenkundig nicht interessiert. Sakamoto zuckt die Schultern, während er Tofu kunstvoll zerbröselt.

Folge 2.14: West Coast

„Das nicht, die fahren rauswärts“, erklärt Carmen Ochoa Sanchez, als Marc Walters fragt, ob sie das nächste Schiff, das auf dem SONAR angezeigt wird, auch mit Leuchtschrift besprühen sollen. Walters fragt, wo der Frachter denn hinführe, sie zuckt die Schultern: „Tokio, nehme ich an. Zumindest sagt das der letzte Datendump der Tracker-Webseiten. Der andere, in seinem Kielwasser, fährt nach Shanghai – da stehen die Container auch gerade noch so legal.“ Marc schüttelt sich. „Die sollten wir mal bemalen. Direkt vor Tokio oder Shanghai, oder Hongkong.“ Carmen zuckt die Schultern und erwidert, wenn man die Chinesen schone, lege man eine falsche Spur. Marc schüttelt den Kopf: „Mann, Carmen! Die treiben genauso Schindluder mit der Umwelt. Und wollen wir wirklich SO falsche Fährten legen? Wir wollen, dass sie erkennen, was wir wollen!“ Er zuckt heftig zusammen, als er Chartrands Stimme hinter sich hört: „Und was sollen wir da drauf pinseln? Wenn wir schlechtes Japanisch oder Chinesisch da drauf sprühen, können wir auch gleich eine Visitenkarte da lassen. Aber prinzipiell keine schlechte Idee.“ Marcs Instinkt lässt ihn einen scharfen Tadel von Sylvain wahrnehmen, aber Sallys Anwesenheit bringt ihn dazu, kurz nachzudenken. Als er die Worte des Kommandanten Revue passieren lässt, entspannt er sich erstaunt. Eine kurze Diskussion entbrennt, wo muttersprachlich klingende, passende Diffamierungen für die Bordwände von Schiffen her zu bekommen seien – Sylvain beendet die Debatte mit dem Verweis, man habe noch zwei Schiffe zu bemalen. Dieses Mal operiert die „Tethys“ vor dem Golden Gate, um leuchtende Texte und Symbole auf Schiffe zu prägen, die San Francisco oder Oakland anlaufen. Mit „Nereide“ hatten sie kurzen Kontakt weit vor der Küste. Marshall Wells und Corey Callaghan haben Attacken mit verklapptem Abwasser aus Wasserwerfern auf Schiffe im Santa Barbara Kanal auf ihrem Plan, danach beabsichtigen sie, mit Volldampf in Richtung Süden zu fahren und dort großen Fischtrawlern die Schleppnetze abzuschneiden – vor allem die Küsten von Ecuador, Peru und Chile sind ihr Ziel. Die Netze wollen sie dann in Mexico mit treibendem Kunststoff gefüllt vor Acapulco anlanden, um ein Zeichen zu setzen. Sylvains Mission führt nach der Aktion vor dem Golden Gate wieder in die Juan-del-Fuca-Strait, Tanker in der vielbefahrenen Meeresstraße manövrierunfähig machen und Staus vor den Häfen von Seattle und Vancouver verursachen – um dann weiter nach Alaska zu ziehen und den Funk von Bohrinseln mit Piratensendern in Bojen zu sabotieren, über die wissenschaftliche Gutachten zur Erderwärmung auf allen Frequenzen ununterbrochen gesendet werden. Auch Sally ist aufgefallen, dass die Konzentration auf die Westküste des amerikanischen Doppelkontinents allmählich auffallen muss. „Es wird nicht weniger ‚Hawaii‘, wenn wir auch Russisch-Fernost, China, Japan, die Philippinen und Australien beharken, aber wir dürfen auch nicht zu berechenbar werden.“, wirft sie einige Stunden später ein, während die „Tethys“ bereits Richtung Norden taucht. Sylvain nickt, dann erklärt er: „Woher wir gutes Russisch für glaubhafte und treffende Sprüche für den Hafen von Wladiwostok herbekommen, oder Chinesisch oder Koreanisch, das weiß ich nicht. Aber wir könnten Mai nach Japanisch fragen. Dann tut sie was für die Organisation, aber wir halten sie nach Ichigos Wunsch aus der eigentlichen Aktion fern.“ Sally nickt, sie hält das für eine tolle Idee. Muttersprachler in anderen Sprachen könne man sicher auch auftreiben, wahrscheinlich sogar unauffällig. Marc geht darauf ein und erklärt, dass Unauffälligkeit wichtiger sei als alle Nationen abzudecken. Auch wenn Sylvain und Sally die Fährte nicht bewusst gelegt haben, befriedigt es doch beide, dass ausgerechnet Marc bremst.

Corey Callaghan steht in Surferpose auf dem Rand des Turms der „Nereide“. Er trägt Shorts, balanciert gekonnt auf der für Wasser schlüpfrigen, für Haut aber erstaunlich griffigen Oberfläche – seinen Sonnenbrand ist er inzwischen wieder los, aber dieses Mal hat er sich sorgfältig eingecremt. Marshall Wells sitzt auf dem Rand der Luke. Nicht, dass er sich einen Balanceakt nicht zutrauen würde, aber im Gegensatz zu Corey findet er, muss er sich nichts beweisen. Die Aufmerksamkeit des Publikums gilt ohnehin eher dem knapp 50 Meter langen Boot als den beiden kleinen Gestalten darauf: „Nereide“ hat sich dem Tempo einer Schule Grauwale angepasst und gleitet zwischen den Tieren durch das unendlich erscheinende Wasser. Dass nur etwa fünf Kilometer hinter dem Horizont auf der Backbord-Seite der mexikanische Bundesstaat Baja California Sur die Unendlichkeit des Pazifik begrenzt, ist beiden Männern sehr bewusst, aber für den Moment sind sie völlig fasziniert vom Anblick der Wale. Wells reißt sich los und lässt seinen ehemaligen Adjutanten bei den Marines der Royal Navy, Ethan Cummings, hoch auf den Turm. Stück für Stück darf jeder auf dem Boot die Interaktion mit den Tieren genießen – die Ex-Militärs nehmen sich weniger, die Zivilisten mehr Zeit. Als Corey wieder unten ist, übergibt Wells die Brücke wieder an ihn und geht nach vorne. Das verklärte Lächeln des Chemikers und Surfers hätte er gerne noch länger genossen, aber ihn drängt es, sich nochmal die Fracht anzusehen: Fünf kleine Tankcontainer voller Insektenvertilgungsmittel, selbst in kleiner Dosierung auch absolut tödlich für Krustentiere, haben sie nahe der geschützten Inseln im Santa-Barbara-Channel geborgen. Noch ist nicht klar, was sie damit anfangen – aber die Transporteinheiten sind eindeutig mit Absender, Beförderer und Empfänger markiert, und das ist eine Route quer über den Pazifik, von San Francisco aus. Dass sie ausgerechnet vor Los Angeles, weitab von der geplanten Route, und ausgerechnet in einem Meeres-Naturschutzgebiet zufällig vom Schiff gefallen sein sollen, ist nahezu unmöglich. Keiner auf dem Boot hatte eine gute Idee, wie man die gefährliche verlorene Fracht publikumswirksam finden lassen hätte können – zumindest keine, die eine Freisetzung des Gifts ausgeschlossen hätte. Noch immer nachsinnend, wie man mit dem Material verfahren soll, bemerkt Wells, dass sich das Deck nach vorne neigt – „Nereide“ taucht, um sich von den Walen abzusetzen und etwas schneller in Richtung peruanischer Küste zu fahren. Die Schleppnetze im Boot zu lagern, die sie dort abschneiden wollen, ist durch das geborgene Gift nicht in Frage gestellt, und sie mit Plastikmüll aus dem nordpazifischen Müllstrudel zu füllen, geht auch problemlos nach publikumswirksamem Fingieren des Funds des Gifts vor Los Angeles, wenn sie wieder zurückfahren. Als Wells aufsieht, wird er Corey Callaghans gewahr, der ebenfalls nach vorne gekommen ist. Er seufzt: „Auch noch keine gute Idee, wie wir das Zeug sicher im Santa-Barbara-Channel finden lassen können, ohne dass es ausläuft?“ Wells schüttelt den Kopf. Er zuckt die Schultern: „Wir haben einen Haufen Zeit bis Peru, um drüber nachzudenken.“

Tausende Kilometer weiter nordwestlich versammelt sich eine bunte Gruppe in einer eher kleinen Halle. Alle tragen Helm und Warnweste – sogar Dorothy Howard-Fielding, die so angetan seltsam deplatziert wirkt. Eine große Maschine mit einem dicken Sichtfenster in dem massiven Druckkörper ist es, die sie alle hierher kommen lassen hat. Auf einem großen Flachbildschirm daneben werden zwei Diagramme angezeigt, auf dem oberen eine langsam ansteigende Linie, auf dem unteren zwei Linien: eine, die immer wieder nach oben schnellt und absinkt, eine andere, die unregelmäßig hin und her zuckt, auf deutlich niedrigerem Niveau, aber auch ein kleines bisschen auf die Peaks der anderen zu reagieren scheint. Thomas Arden erläutert: „Oben sehen wir den Druck – unten die eingestrahlte Schallstärke und das zurückgeworfene Geräusch.“ Nick Howard grinst schief und fragt, ob er „für die anwesenden Laien“ auch einfach Zahlen anzeigen lassen könne. Arden nickt und verstellt etwas – die beiden Diagramme rücken in die linke Bildschirmhälfte, in der rechten wird nun oben eine Druck- und eine Prozentangabe angezeigt, unten rechts ein drittes Diagramm. Weder Dorothy noch Nick oder Charles hören wirklich zu, als Arden erklärt, das dritte Diagramm zeige die Schallabsorption als Funktion des Drucks an, Liz Ames und Colette Williams dagegen haben sichtlich verstanden, dass genau in diesem Diagramm die spannende Frage beantwortet wird, die spannende Frage, die lautet: Kann der Howard-Industries-Superrubber auch in großen Tauchtiefen ein U-Boot quasi unsichtbar für das SONAR machen? Beide Juristinnen sind nervös – Colette wegen der Vertragsstrafen der Navy, falls es nicht klappt, Liz hat ganz andere Gründe für ihre Nervosität. Tom Arden dreht den Druck langsam hoch, immer wieder lässt er den Schallerzeuger, der einer SONAR-Einrichtung entnommen ist, in die mit dem schwarz-ölig-glänzenden Material ausgekleidete Kammer pingen und die Reflexion messen. Ganz langsam steigt der Druck, die Korrelation der Ping-Lautstärke mit dem zurückgeworfenen Schall bleibt weiterhin auf sehr niedrigem Level konstant. „280 Meter!“, verkündet Arden, Liz beißt sich auf die Lippen und presst dann hervor: „Der geleckte Drecksack hatte es tatsächlich hingekriegt und nur die falschen Knöpfchen gedrückt…“ Dass ihr eigentlich etwas ganz anderes durch den Kopf geht, lässt sie sich nicht anmerken. Nick Howard grinst, Liz‘ derbe Äußerung gefällt ihm, während Dorothy die Nase rümpft. Tom Arden schränkt ein: „Das sind Laborbedingungen. Und wir wollen bis 340 Meter schaffen. Die ersten Blasen sind garantiert schon kollabiert. Entscheidend ist außerdem, wie gut sie sich regenerieren.“ Bei 31 bar Druck zuckt die Korrelation zwischen eingestrahltem Schall und Echo erstmals wirklich deutlich über das Niveau des Rauschens hinaus, bei 35 bar bricht die Schallabsorption zugunsten der Reflexion zusammen. Arden steigert den Druck noch bis zum Äquivalent von 400 Metern Tiefe, dann fährt er den Druck langsam wieder herunter. Dorothy fragt: „Und was sagt uns das jetzt?“ Nick Howard kommt Tom Arden zuvor: „Noch bedeutet das gar nichts. Es kommt drauf an, wann sich die Blasen, die den Schall schlucken, wieder aufbauen – und ob sie es überhaupt tun.“ Charles Junior, Dorothy und Colette Williams haben dieses Problem nicht verstanden, und so sind es vor allem Nick, Tom Arden und Liz Williams, die beim Absinken des Drucks unter 35 bar immer nervöser werden. Bei 31 bar sinkt zuerst recht langsam die Schallreflexion wieder – und bei 28 ist sie plötzlich wieder im Rauschen verschwunden. Tom reckt die Faust: „Yeah!“ Liz nickt zufrieden und Nick bietet Arden zu dessen Überraschung die Hand zum High-Five an. Tom erklärt: „Ein Achtungserfolg. Nun müssen wir es großflächig hinbekommen und die Druckfestigkeit der Blasen noch etwas hochschrauben, ohne dass der kollabierte Zustand stabiler wird. Dann schaffen wir 400 Meter und Regeneration bei 350. Wir müssen allerdings noch messen, ob die Regeneration total ist. Ich lasse das Ganze von Null bis 45 bar hoch und runter laufen, noch neun Mal. Dann ziehen wir eine Probe für’s Labor und zählen kollabierte Blasen, den Rest quälen wir noch 90 Mal und zählen dann wieder. Wenn wir dann noch eine ordentliche Menge funktionierendes Material haben, machen wir’s noch hundert Mal.“ Dorothy runzelt die Stirn, Charles Junior fragt: „Immer wieder dasselbe zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, zeugt von Wahnsinn, oder?“ Arden sieht die beiden verständnislos an, Nick ist die Ungeduld anzuhören: „Du biegst den Löffel einmal, zweimal, dreimal. Und dann bist du überrascht, wenn er beim fünften Mal abbricht? Du warst doch auf dem College, Charles Benjamin Junior, oder nicht?“ Nur mit Mühe beherrscht sich der Sohn des Firmengründers, zumal auch Dorothy nicht daran denkt, im beizuspringen.

Als Liz und Tom zu Fuß über das Gelände gehen, fragt die Anwältin: „Wird’s gleich klappen mit der weitgehenden, immer wieder kommenden Regeneration des SONAR-Stealth? Oder hast du’s mit Absicht…?“ Arden seufzt: „Ich bin froh, dass ich es schon beim zweiten Anlauf so gut hinbekommen habe. Es sind andere Maschinen, und es ist ein ziemlicher Balance-Akt zwischen Viskosität und Oberflächenspannung, um die Wanddichte der Bläschen zu optimieren und das Zeug nicht ausleiern zu lassen. Ich habe nichts sabotiert. Es ist nicht so einfach.“ Grinsend meint Liz, wenn es einfach wäre, könne es ja jeder. Und wenn es zu leicht erscheine, könnte man auf Ideen kommen – denn auch Corey sei nicht so blöd, wie er aussehe. Mit einem süffisanten Lächeln korrigiert sie: „Nicht so blöd, wie er ausSAH.“ Arden schüttelt nur den Kopf. Im Büro wartet Cristina Benitez mit vier Telefonnotizen und drei Tassen Kaffee auf die beiden. Als alle drei ihre Tassen in den Händen halten, fragt sie: „Und, wie lief’s?“ Tom grinst: „Reicht nicht für ein praktisch anwendbares U-Boot. Aber mit ein bisschen Schweiß und Rumprobieren kriegen wir das hin. Sicher nicht gut genug für absolut geheime U-Boote wie für Terroristen. Aber gut genug für die Navy.“ Komplizenhaft stoßen sie mit den Kaffeetassen an.

Folge 2.13: Stimmt die Chemie?

Charles Howard Junior mustert seinen Onkel skeptisch: „Was hast du vor, Onkel Nick?“ Nicolas Howard zuckt die Schultern und erwidert, man solle erstmal schauen, ob man etwas nicht könne, bevor man den Akten anderer Leute glaube. Charles runzelt die Stirn noch stärker, dann fragt er: „Und wer im Unternehmen soll das Zeug können, wenn Callaghan beim Surfen ersoffen ist?“ Nick grinst und macht es spannend, indem er erst noch an seinem Kaffee nippt, sich mit dem Handballen Milchschaumreste von der Oberlippe wischt und dann antwortet: „Wird dir nicht gefallen.“ Dem im Anzug angetanen Howard-Erben geht das Gehabe seines in Jeans und Pullover eher lässig angetanen Onkels sichtlich auf die Nerven, er winkt einfach nur mit der Hand. Mit diesem gestischen Machtspiel beißt er bei Nicolas J. Howard allerdings auf Granit. Der Wettbewerb, wer länger schweigend abwarten kann, hält 45 Sekunden, dann wird es Charles zu dumm: „Ich lasse es drauf ankommen. Wer, Nick?“ Der ältere lehnt sich zurück, trinkt noch einen Schluck Kaffee und erklärt dann gönnerhaft: „Thomas Arden, Charlie. Thomas Arden kennt sich damit aus. Der hat auch prompt reagiert, als wir mit diesen Ökoterroristen Probleme hatten. Und deine ‚Stiefmutter‘, Esther Goldstein. Die ist auch Chemikerin…“ Charles braust auf: „Sie hat hübsche Ti-… Brüste und findet bestimmt jemanden, der das für sie rechnet und macht, das heißt nicht, dass sie Ahnung davon hat. Und nenn‘ mich nicht Charlie!“ Es braucht nur zehn Sekunden des Schweigens, bis er erkennt, dass er einen Fehler gemacht hat. Nick Howard schiebt einen Bogen über den Tisch – ein ziemlich seriöses und absolut unsexy Bild von Esther prangt in der oberen, linken Ecke des Lebenslaufes. Er wirft ein Foto drauf – Esther in deutlich jünger, in Hose und Pullover. „Das hat die Pforte gemacht, als sie zur Vorstellung gekommen ist, Charles Benjamin Junior.“ Er betont den vollen Namen seines Neffen, jede Silbe davon. „Du darfst aber trotzdem gerne weiter Onkel Nick sagen, wenn du dir dazu nicht zu fein bist.“ Noch während der aufgebrachte Charles das Büro seines Onkels verlässt, ärgert er sich darüber, ihm nichts über seine Initiative mit Bob Landsman und den Zugangsprotokollen erzählt zu haben. Ob Nick das gut geheißen hätte, darüber macht er sich keine Gedanken, eher beschäftigt ihn, mit den zu findenden Beweisen über die Kontrollen von Esther Goldstein-Howard und Thomas Arden am Projekt, Nicks pragmatisch-sachlichen Umgang mit den beiden zu diskreditieren.

Falls Nick über den kleinen Sieg über seinen Neffen Triumph empfindet, lässt er es sich nicht anmerken, obwohl er allein im Büro ist. Er trinkt einen größeren Schluck aus der Cappuchino-Tasse, dann nimmt er einen Briefbogen, als Notizzettel verwendet, von der Platte auf. „Dorothy lässt Ellison, Wilshire, White, Whitman, Sato, Sato and Ames zwei Sprayer und potentielle Ökoterroristen auf Kosten von Howard Industries verteidigen. Charlie begehrt auf und Claire lässt uns auflaufen und fliegt nach Hawaii. Dazu läuft diese Klage wegen Formfehlern besser als gedacht – und Arden macht die erste Probe von dieser Beschichtung. Wenn ich nicht irgendeines dieser modernen ‚Mindmap‘ Programme benutzen will, brauche ich größeres Papier – oder dünnere Stifte, um den Überblick zu behalten.“ Er trinkt die Tasse leer, löffelt den verbliebenen Milchschaum aus und will gerade aufstehen, als das Telefon klingelt. Kurz entschlossen nimmt er den internen Apparat ab und bittet Cris Benitez, ihm noch einen dieser göttlichen Cappuchinos vorbeizubringen, bevor er das eingehende Gespräch annimmt. Er ist so vertieft in den Anruf, dass er Tom Ardens Sekretärin kaum bemerkt, als sie ihm den Kaffee hinstellt. Ihm entgeht auch ihr Erschrecken, als sie bei instinktivem, flüchtigem Blick auf seinem Notizbogen liest, dass er weiß, dass Claire nach Hawaii geflogen ist.

Liz Ames hat nur eine Handtasche dabei, Ryo Satos Aktentasche wird nach der Durchleuchtung sogar noch einmal von Hand durchsucht, während Liz mit einem freundlichen Nicken des übergewichtigen Officers um eine eingehendere Untersuchung ihrer selbst wie auch ihrer Tasche herumkommt. Als sie den kargen Raum betreten, erklärt Sato mit ungewohnt süffisantem Ton: „Sie haben zur Zeit keine weiblichen Officers, um eine Leibesvisitation zu machen.“ Liz zuckt mit den Schultern und erklärt, ihren Lippenstift, das kleine Notizbuch und ihr Handy habe auch niemand sehen gewollt. Dann wird sie der beiden jungen Männer gewahr, die in Haftanstaltskleidung am Tisch sitzen. Blicke werden ausgetauscht, die Sato zu einem irritierten Anheben der Brauen animieren. Dann stößt einer der Jungs hervor: „Scheiße Mann, wollen sie uns auch noch Catcalling anhängen?“ Satos fragender Blick trifft Liz mit großer Intensität. Diese grinst geradezu unverschämt: „Sie beide werden es nicht glauben, aber Mr. Sato und ich sind hier, um sie zu verteidigen. Wir haben ein Mandat von Howard Industries Ltd., und wenn sie uns nicht ablehnen, haben wir sicher bessere Aussichten, sie aus dem Schlimmsten rauszuhalten, als die ihnen zugeordneten Pflichtverteidiger. Mein Name ist Elizabeth Ames.“ Dass sie die unausgesprochene Frage ihres Kollegen damit keineswegs beantwortet hat, ficht sie nicht im Geringsten an. Sato lässt es aber nicht auf sich beruhen: „Vielleicht solltest du uns ALLE auf denselben Stand bringen, Liz.“ Diese zwinkert ihren beiden potentiellen Mandanten zu und wartet, ob diese was dazu sagen. Der sichtlich jüngere der beiden schüttelt sich: „Mann, dann waren sie das am Ende gar nicht, am Pier, bevor…?“ Liz schüttelt den Kopf, allerdings nicht als Antwort auf seine Frage: „Doch. Ich war das Mädchen mit dem aufregenden Rückenausschnitt, dem ihr nachgestellt habt, bevor ihr ‚Pollutor‘ in Glow-in-the-Dark-Farbe auf die Fähre gesprayt habt. Ist mir aber völlig egal, ich mache meine Arbeit als von Howard Industries beauftragte Verteidigerin für euch Jungs, ich würde das auch machen, wenn ihr mehr als nur geguckt hättet. Also: Ihr HABT das Schiff angesprayt. Habt ihr in der Nacht sonst noch was angestellt? Wir müssen das wissen, wenn wir euch verteidigen sollen.“ Sato lehnt sich zurück, ein wenig verblüfft darüber, wie gut Liz den Ton trifft, der die beiden jungen Männer zu dankbaren Mandanten macht – und wie viel Mühe sie sich dabei gibt. Auch wenn Sato – wie auch die anderen Senior-Partner der Kanzlei – Liz schätzen, sie wissen doch, dass sie kühl, distanziert, aufbrausend, spröde und teils scheinbar grundlos boshaft sein kann, und dass sie selbst im professionellen Umgang Antipathie sehr deutlich durchblicken lassen kann. Wenn sie sich also tatsächlich von den beiden Männern belästigt oder gar bedroht gefühlt hat, wieso ist sie dann so höflich, ja sogar freundlich, fast schon anbiedernd?

„17 bar, Chef!“ Der Techniker verkündet den Wert mit Triumph in der Stimme. Tom Arden schüttelt den Kopf: „Das sind gerade mal 170 Meter. Kompletter Kollaps?“ Der Mann an der Steuerung des Testsystems mit der Druckkammer spezifiziert, dass 50 Prozent der schallfangenden Bläschen in der Kunststoffschicht kollabiert seien, etwa ein Fünftel davon hätten sich in den ersten zehn Minuten nach Druckentlastung regeneriert. „Wenn Dr. Callaghans Formel stimmt – und ich komme ja auch immer wieder auf sie – dann müssen mindestens 300 Meter drin sein.“ Der Techniker merkt skeptisch an, niemand wisse nach dem Brand in der Halle noch, ob das hätte klappen können und wie weit Corey Callaghan die Werte übertrieben habe. Er will ihn gerade anfahren, er habe es nachgerechnet und es müsse bis 50 bar funktionieren, dass die schallschluckende Schicht zu 25 Prozent intakt bleibe und sich vollständig wieder regeneriere, da klingelt das Telefon im Labor. Arden nimmt ab, noch während er den Hörer ans Ohr führt, denkt er sich, dass es besser so sei – schließlich darf niemand wissen, dass er nicht nur denkt, sondern experimentell bewiesen weiß, dass die Beschichtung bis 500 Meter druckfest ist. Doch dann hat er einen ganz anderen Grund, finster drein zu blicken: Cris Benitez berichtet ihm, was sie in Nick Howards Büro mitbekommen hat. Was der Bruder des alten Howard sonst noch weiß, will sich Arden gar nicht ausmalen, wenn er eine Quelle hat, die ihm über Claires Flug nach Hawaii berichtet hat. Aber wirklich verhindern kann er nicht, dass ihn nun weit mehr als der schallschluckende Superrubber beschäftigt, wer was an Nick Howard berichtet.

Folge 2.12: Von Angesicht zu Angesicht

„Es fühlt sich komisch an, einfach so nach Hawaii zu fliegen“, bekennt Claire Howard. Isabelle Lagarde zuckt die Schultern. Sie hat wegen der nebligen Kühle ihre Strickjacke enger um die Schultern gezogen, die Kälte lässt die Krähenfüße deutlicher hervortreten, so dass sie tatsächlich wie eine Frau in ihren Sechzigern aussieht: „Du hast vorlesungsfreie Zeit und keine Praktika. Was hält dich hier in San Francisco?“ Steven Lunden merkt an, er sei immer noch etwas verwirrt, warum Claire unbedingt Esther Goldstein-Howard kennenlernen wolle, aber wenn es ihr wichtig sei, wolle er seine Tochter nicht aufhalten. Isabelle lächelt: „Wenn es dich wirklich interessiert, Steven, dann erkläre ich es dir nachher oder heute Abend.“ Lunden vertröstet seine Frau auf den Abend, er ist nicht ohne Grund bereits im Anzug angetan, das Büro erwartet ihn bereits – aber seine Stieftochter, die er allerdings stets nur als seine Tochter bezeichnet, will er auf jeden Fall verabschieden, bevor sie zum Flughafen abgeholt wird. Die drei stehen an der Auffahrt des Hauses in Brisbane südlich von San Francisco, Lunden sieht etwas ungeduldig auf die Uhr, das dritte Mal inzwischen. Doch genau in diesem Moment passiert eine schwarze Limousine das Grundstück, stoppt und fährt rückwärts ein Stück die abschüssige Auffahrt hinauf. Auf der Fahrerseite steigt Liz Ames in schwarzem Kostüm aus, sie trägt eine Sonnenbrille in die Stirn geschoben. Mai Sakamoto, die auf der Beifahrerseite aussteigt, ist mit Outdoor-Jacke und Jeans wesentlich nebelfester gekleidet, auch wenn sie wie Claire in die Sonne fliegen wird. „Guten Morgen, Mr. Lunden, Mrs. Lagarde – hallo Claire“, beginnt Liz, macht sich aber sogleich daran, den Kofferraum zu öffnen. Mai verneigt sich angedeutet: „Guten Morgen! Ich bin Sakamoto Mai – ich begleite Claire.“ Isabelle Lagarde lächelt und nickt: „Hallo Mai, du bist ganz schön groß geworden, seit ich das letzte Mal Bilder von dir gesehen habe. Sage deinem Vater schöne Grüße von mir. Wenn du noch Kontakt mit ihr hast, deiner Mutter bitte auch.“ Mai nickt, lächelt und deutet eine Verneigung an. „Das werde ich tun. Mit meiner Mutter telefoniere ich einmal im Monat.“ Lunden lässt es sich derweil nicht nehmen, das Gepäck seiner Tochter in Liz‘ Wagen zu laden. Claire umarmt zuerst ihre Mutter, dann ihren Vater, Mai verneigt sich noch einmal vor beiden und Liz schüttelt dem Ehepaar Lunden/Lagarde die Hände – dann steigen die drei jungen Frauen in den Wagen und fahren Richtung Highway 101 los. Claire winkt noch nach hinten hinaus, da fragt Liz schon an Mai auf dem Beifahrersitz gewandt: „Du betonst deine japanischen Manieren ganz schön. Übst du für deinen Vater?“ Mai zuckt die Schultern, schüttelt den Kopf und erklärt dann: „Wenn ich neue Leute kennenlerne, falle ich in Vaters Erziehung und die Gewohnheiten aus der Zeit bei meiner Mutter zurück.“ Liz wundert sich, Isabelle sei doch nicht neu für sie, doch Mai widerspricht: „Ich war noch nicht geboren, als Charles B. Howards zweite Ehe geschieden wurde. Ich wusste gar nicht, dass Vater noch mit ihr korrespondiert hat.“ Claire mischt sich ein, sie erklärt, Ichigo Sakamoto habe noch lange weiter mit ihrer Mutter geschrieben. Dann jedoch ist Liz sehr beschäftigt, die beiden am Terminal abzuliefern – und sie haben es eilig, ihren Flug zu erreichen. Erst als sie in der 777 sitzen, gibt es wieder Gelegenheit, sich zu unterhalten – aber sowohl Claire als auch Mai sind mit anderen Gedanken beschäftigt. Die eine fragt sich, wie Esther auf sie reagieren wird, und die andere beschäftigt sich mit der gerade erst gewonnenen Erkenntnis, dass sie als Aufpasserin für Claire ja gar keine Gelegenheit bekommen wird, sich Esthers und Coreys Organisation anzuschließen.

„Echt jetzt?“, fragt Corey ärgerlich. Doch Sylvain Chartrand lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Ich reiße die funktionierenden Crews von ‚Nereide‘ und ‚Tethys‘ nicht auseinander. Du machst Navigation und Aktionsplanung, Marc genauso. Wir verteilen die Expertenteams von ‚Aphrodite‘ auf die beiden anderen Boote.“ Säuerlich versetzt Callaghan: „Ja, und du nimmst dir Sally auf dein Boot…“ Wells kommentiert trocken: „Bei der Mission vor Huntington Beach war Sally unser Mission Specialist. Es war ihre Idee. Wir alle hatten uns darauf geeinigt, dass Carmen und Sally regulär auf ‚Tethys‘ agieren – auch, weil Ethan Sanitäter in meinem Regiment bei der Royal Navy war. ‚Aphrodite‘ hatte Anna und Marc als Sanitäter. Carmen macht das nur nebenbei – wir stellen ihr Marc zur Seite. Dein Platz ist dann in meiner Crew.“ Damit nippt der Brite abermals an seinem Tee, schüttet noch einen weiteren Schluck Milch hinein und wartet, ob Corey weiteren Protest anbringen will – doch Sylvain Chartrand kommt dem einzigen Nicht-Militär in der Bootskommandantenrunde zuvor: „Warum ist dir das eigentlich so wichtig, mit Marc zu fahren – oder geht es um ‚Tethys‘? Dass Esther eher mit mir fährt, wenn sie nicht ‚Aphrodite‘ kommandiert, ist mit dem Verlust des Bootes und der Umverteilung der Crew auch Geschichte. Du kannst also ruhig davon ausgehen, dass du ihr auch auf ‚Nereide‘ weiter hin und wieder chancenlos auf den Arsch gucken kannst.“ Der Zorn, der in Corey Callaghan aufsteigt, ist kaum zu übersehen, aber dann besinnt er sich eines Besseren. Eine sachlich fundierte Alternative zu der Neuzuordnung der ehemaligen Crew des Bootes ‚Aphrodite‘ fällt ihm nicht ein, und weder Wells noch Chartrand scheinen ihn wirklich dafür zu verurteilen, dass er auf Esther steht, auch wenn diese sehr deutlich gemacht hat, dass sie das nicht erwidert. „Wäre ja auch zu einfach gewesen“, murmelt er in sich hinein, als er Wells und Chartrand zurücklässt, um sich ein wenig an der unzugänglichen Stelle vor der Höhle am Strand in die Sonne zu legen. Über sein Aufgebrachtsein entfällt ihm völlig, dass er recht lange wenig Sonne auf der Haut gespürt hat.

Als die Bürotür sich öffnet, sieht Cris Benitez zunächst nur flüchtig auf – dann erkennt sie, wer eingetreten ist und saugt kräftig Luft ein. Doch Dorothy Howard-Fielding ignoriert die Sekretärin völlig, sie will gerade die Durchgangstür zur Thomas Ardens Arbeitsplatz öffnen, da besinnt sie sich eines Besseren: „Ist er da? Telefoniert er gerade?“ Innerlich schwankt sie zwischen Belustigung und Ärger, wie eine Bedienstete behandelt zu werden, aber sie lässt es nicht sehen: „Mr. Arden ist am Platz und frei, Mrs. Howard-Fielding.“ Dorothy bedankt sich flüchtig, während sie bereits die Tür öffnet – Cris schreibt rasch über den offenen Messenger an ihn: „Achtung! Dorothy an der Tür!“ Dass Arden erschrickt, kann sie jedoch nicht verhindern, denn die Erbin der Firma steht bereits im anderen Büro. Bevor die Tür zufällt, kann Cris noch hören, wie sie sagt: „Mr. Arden! Guten Tag – Abteilungsleiter Arden. Sind das da die Formeln, an der Tafel?“ Toms Antwort wird bereits von der geschlossenen Tür geschluckt. Mindestens einen wichtigen Teil hat sie aber dennoch mitbekommen – Dorothy kommt sich ganz offensichtlich sehr raffiniert vor, ihn mit der Wiedereinsetzung als Abteilungsleiter überraschen zu wollen.

„Jetzt bin ich mal gespannt…“, bekennt Claire mit bangem Vibrieren in der Stimme. Mai lächelt und kommentiert: „Sie ist okay…“ Die beiden ziehen ihre Koffer bereits hinter sich her, beide haben ihre Jacken um die Griffe der Koffer geknotet. Trotz der Klimaanlage und des frischen Winds draußen ist die in San Francisco noch angebrachte Kleidung in Honolulu viel zu warm. Claire stellt sich auf eine längere Suche nach der Abholung ein, Mai rechnet mit Willard Sanders – doch am Gate stehen Ichigo Sakamoto und Esther Goldstein-Howard. Schilder halten sie nicht hoch, Ichigo geht selbstverständlich davon aus, dass seine Tochter ihn finden wird. Claire fällt einen Schritt hinter Mai zurück, als sie der schwarzen Lockenmähne neben dem Japaner gewahr wird – und verlangsamt nochmal, als sie Gewissheit erlangt und Esther in ihrem schwarzem Sommerkleid erkennt. Doch Esther gibt die Unbefangene, umarmt erst Mai, dann Claire – Ichigo umarmt seine Tochter, die sich über dessen legeres Hemd wundert, und verneigt sich dann vor Claire. Nach der Begrüßung erklärt Esther: „John und Willard brauchten die Limousine. Daher sind wir zu zweit gekommen – ich schlage vor, Ichigo und Mai nehmen gemeinsam den SLK. Ich bin die Corvette lange nicht mehr gefahren und hatte einen Heidenspaß auf dem Herweg.“ Dass sie gleich allein mit Esther im Auto sitzen soll, zerstreut Claires Beunruhigung nicht, im Gegenteil – aber eine Wahl hat sie nicht. Fünfzehn Minuten später biegt Esther, ein schwarzes Tuch um die Haare geschlungen und die Sonnenbrille über den Augen, auf den John A. Burns Freeway, während Sakamoto bereits am Flughafen in Richtung Osten gefahren ist. Vorsichtig fragt Claire: „Fahren wir woanders hin als Mai und ihr Vater?“ Esther schüttelt den Kopf. Sie bevorzuge nur den Highway H3, während Sakamoto lieber die Pali Tunnels nehme – vielleicht wolle er sogar mit Mai auf dem Nu’uanu Pali Lookout einen Zwischenstopp machen. Doch als Claire das Thema vertiefen will, schüttelt Esther den Kopf: „Ich möchte eigentlich lieber die Gelegenheit ergreifen, mit dir zu sprechen. Klar, ich zeige dir nachher das Haus. Aber es ist ja nicht so, dass du einfach deine Stiefmutter besuchst. Ich führe keinen Krieg, nicht gegen Dorothy, Charles Junior und Nick. Aber wenn ich es täte, hättest du die Seiten gewechselt – zuerst meine Gegnerin, nun meine Verbündete. Ich bin – wenn ich es richtig weiß – ein Jahr jünger als du, und ich wohne in dem Haus, das dein Vater als Lustschloss für deine Mutter und sich gebaut hat.“ Claire bekennt, dass sie gar nicht wusste, dass Charles B. Howard das Anwesen auf Hawaii für ihre Mutter Isabelle geschaffen habe. Esther kommentiert: „Er hat es für sie neugestaltet, aber sie hat es nie gesehen. Das ist unglaublich schade. Ich hoffe, du hast ein bisschen Zeit mitgebracht. Es gibt viel zu sehen auf Hawaii. Howard’sches und anderes.“ Claire zuckt die Schultern: „Öl, das aus dem Hafenbecken aufsteigt und als nationales Monument, als Tränen betrachtet wird, statt als Umweltverschmutzung… da kann ich gut drauf verzichten.“ Esther grinst: „Es gibt nicht nur das Memorial über dem Wrack der ‚Arizona‘. Und wir müssen auch nicht alles mit diesem übermotorisierten Spaß-Ungetüm hier erkunden auf der Insel. Du würdest dich wundern, wie sehr deinem Vater Umweltschutz und Frieden am Herzen lagen, in seinen späten Jahren.“ Claire nimmt fast mehr zur Kenntnis, wie sehr sich Esthers Miene in der Erinnerung zuerst erhellt und dann verdüstert, als dass sie die Worte hört. Doch als sie aus dem Tetsuo Harano Tunnel kommen, ist die jüngste Tochter von Charles B. Howard erst einmal zu sehr mit dem Blick von den Bergen herunter bis zur Kanoehe Bay eingenommen, um sich mit der der Wandlung ihres Vaters oder Trauer seiner dritten Frau beschäftigen.

Folge 2.11: Turmwolken

In der Kanzlei „Ellison, Wilshire, White, Whitman, Sato, Sato and Ames“ sitzen alle sieben Senior-Partner um den Konferenztisch im großen Besprechungsraum. Sato Senior berichtet, dass man zwei junge Männer aufgegriffen habe, die wahrscheinlich für einige der phosphoreszierenden Schriften auf den Schiffen in der Bay von San Francisco verantwortlich gewesen seien. Liz hebt die Brauen: „Willst du dich zum Pflichtverteidiger bestellen lassen, Ryo?“ Der japanischstämmige, grauschläfige Anwalt lächelt. „Nein, eigentlich nicht. Ich wollte etwas vorschlagen – nämlich, dass Howard Industries die beiden Herren bei ihrer Verteidigung wegen Rufmordes unterstützt.“ Kanzleigründer Ellison, noch ein ganzes Stück älter als Ryo Sato, schnaubt: „Behalt‘ dein Showmaster- und Magiertalent für dich und die Gerichte. Komm zur Sache!“ Der Anwalt lacht und nickt: „Ist schon gut. Nun, ich habe mehrere gute Gründe, warum ausgerechnet wir uns ausgerechnet von Howard Industries beauftragen lassen sollten, die beiden jungen Männer zu verteidigen. Erstens wäre das ein richtig gutes Signal, dass Howard Industries es mit dem Umweltschutz ernst meint. Nicht zuletzt, weil Howard Industries eine Kehrtwende in Sachen Umweltschutz hingelegt hat, in den letzten Lebensjahren von Charles B. Howard, haben wir das Unternehmen gerne unterstützt – nicht nur Elizabeth, sondern wir alle. Es gibt allerdings noch einen weiteren sehr guten Grund. Christensen and Albright haben die Zivilklage gegen die beiden Herren durch drei betroffene Reedereien übernommen. Vermutlich werden sie Robert Landsman einsetzen.“ Ellison grinst plötzlich und erklärt, er sei begeistert, dass Ryo Sato endlich begriffen habe, dass man seine Position als Platzhirsch bei der Umweltschützercommunity zu verteidigen habe. Doch er kann nach einem Moment nicht mehr übersehen, dass alle fünf anderen männlichen Partner die einzige Frau in der Runde ansehen. Schließlich nickt er fest und sieht ebenfalls zu Liz: „Du willst diesen Kerl in den Staub werfen, und das ist eine weitere Gelegenheit dafür. Willst du den Fall denn zusammen mit Ryo bearbeiten und zwei Jungs mit Spraydosen mit Leuchtfarbe vor dem Knast und einer saftigen Schadensersatzforderung bewahren?“ Liz nimmt sich Zeit. Sie sieht Ellison in die Augen, dann lässt sie den Blick über die Gesichter der anderen schweifen. Schließlich landet sie wieder bei Ellison und antwortet fest: „Ja. Auch wenn die Methoden nicht akzeptiert werden, ist die Intention richtig. Ich werde versuchen, Howard Industries davon zu überzeugen, uns damit zu betrauen. Dorothy Howard ist nicht begeistert von mir, aber sie weiß auch, dass Howard Industries als Kunststoffhersteller und Petrochemie-Konzern ein Image-Problem hat, das sie in der Form nicht mehr verdienen. Und – aufrichtig gesprochen – für eine Gelegenheit, Bob eins reinzuwürgen, brauche ich keine moralischen oder finanziellen Anreize.“ Ellison nickt und beschließt die Sitzung. Als Ryo Sato und Liz ein paar Minuten später in Satos Büro sitzen, schenkt Sato ihr Kaffee ein und fragt dann höflich, aber bestimmt, was Liz denn so sehr motiviere, Landsman demütigen zu wollen. Sie seufzt, aber als er die Frage gerade zurückziehen will, stellt sie fest: „Wenn ich mit dir an diesem Fall arbeite, solltest du wissen, was mich gegen Bob antreibt. Es gab da so eine Geschichte im Studium. Eine Freundin und ich spielten mit – nun, exotischer Kleidung herum, bedienten ein wenig Fetisch und ein wenig den Reiz von Dominanz und Unterordnung. Bob bildete sich ein, in das Spiel hineinzukommen, statt nur zuzugucken. Wir ließen ihn böse abblitzen.“ Sato zeichnet – spekulativ, aber von Liz‘ Nicken begleitet – verletzte männliche Eitelkeit und ein Aufschaukeln des Konflikts nach. Dann fragt der ältere Anwalt: „Darf ich nach der konkreten Szene fragen – Kleidung, Verhalten und dergleichen?“ Liz bejaht und sagt es ihm. Sato hebt die Braue und erklärt, dass er sich nicht wundere, dass Landsman davon feuchte Träume bekommen habe. Doch dann wechselt er das Thema und beginnt, den Fall mit Liz zu besprechen. Als er die Anschuldigungen gegen die beiden jungen Männer auflistet, kommt Liz ein vager Verdacht…

„So“, erklärt Charles junior. Bob Landsman fragt nach: „So?“ Charles nickt entschlossen und beginnt zu erzählen, dass es ihn nun nicht mehr interessiere, ob Dorothy und Nick ein gewisses Projekt mittragen. Als Landsman die Andeutungen nicht versteht, wird er konkreter: „Onkel Nick und meine große Schwester möchten nicht gegen Arden und Esther Goldstein vorgehen. Sie möchte auch nicht Dr. Callaghan angreifen. Ich will das aber.“ Landsman wiegt den Kopf hin und her. „Simon sagt, die Aktenlage gebe es kaum her, so eine Klage zu führen. Die Berichte von Callaghan täuschten besseren Fortschritt vor und gegen ihn zu klagen ist fruchtlos.“ Charles schüttelt den Kopf. Er mokiert sich darüber, dass Anwälte keine Phantasie hätten. Dann zwinkert er: „Der Hauptrechner von Howard Industries speichert Zugänge mit Karte. Jedes Gebäude ist mit Kartenlesern zugangsgeschützt. Wenn wir an diese Daten herankommen…“ Landsman wirft ein, dass man legal an diese Daten herankommen müsse, um einen Fall zu haben. Datenschutz und Schutz der Arbeitnehmer zu umgehen, liefere einem keine Beweise vor Gericht. Charles schüttelt den Kopf und meint, das wisse er: „Aber allein die Möglichkeit, nachweisen zu können, dass sie eben doch dort waren und somit gesehen haben, dass Callaghan gelogen hat, würde doch einen Antrag auf Aushändigung der Daten, die für Ardens und Esthers Zugänge rechtfertigen, oder nicht?“ Landsman nickt einmal, dann noch einmal. Dann erwidert er, das müsse er sich durch den Kopf gehen lassen. Fadenscheinig sei die Geschichte schon, und wenn man hinreichend Zweifel an der Version säe, dass Esther Goldstein-Howard und Thomas Arden nur die Berichte vorlägen, habe man einen Fall, der nicht nur zugelassen werden könne, sondern vielleicht auch nicht ganz aussichtslos sei. Langsam finden sich die beiden Männer in die Idee hinein, und Charles junior erklärt, er werde bei Seniorpartner Albright diese Idee lancieren, damit Bob offene Türen einrenne. Was seine Schwester davon hielte, sei ihm egal. Landsman reibt sich die Hände, dann meint er jedoch etwas skeptisch: „Wenn nur nicht wieder Liz irgendeine Nummer mit bisher unbekannten Fakten abzieht. Ich will nicht wieder gegen die verlieren, ich will SIE verlieren sehen!“ Charles grinst und meint, das könne er sich denken.

Folge 2.10: Herausstehende Nägel

Dass Claire bestätigt, dass sie angerufen habe, weil sie neugierig auf Esther sei und sie treffen wolle, lässt Esther erstaunt die Brauen heben. Als sie anfügt, dass sie ja mit Mai Sakamoto zusammen nach Hawaii fliegen könne, weil diese ohnehin ihren Vater besuchen wolle, verdüstert sich Esthers Miene. Sie bemüht sich aber, ihrer Stimme die Sorge nicht anmerken zu lassen, dass Mai in die Aktionen der Gruppe hineingezogen wird. Sie lädt Claire auf das Anwesen ein und bittet sie, Badesachen mitzubringen. Dann legt sie auf und schlendert zurück zu Sally, Sylvain und Willard, bei denen auch John Hiller gewartet hat, bis Esther das Mobilteil des Telefons zurückbringt. Auf die neugierigen Blicke antwortet sie mit nur einem Wort: „Verdammt!“ Sie lässt sich die Informationen regelrecht aus der Nase ziehen, aber als sie endlich damit herausrückt, dass Mai und Claire auf das Anwesen kommen wollen, verstehen und teilen die vier anderen ihre Besorgnis. Sylvain Chartrand merkt allerdings an: „Nun, wenn sie auf Claire aufpassen muss, wird Mai zur Geheimhaltung gezwungen sein. Damit können wir sie fern halten. Ich fände, sie würde ein instabiles Element in die kritische Situation mit Marc und Corey bringen. Aber wenn wir ihre Verantwortung für Claire nutzen können, um einerseits Mai ein bisschen von der Organisation fernzuhalten und andererseits die beiden als Ausrede haben, warum die ungemütlichen Entscheidungen gegen eine erneute Verschärfung unserer Gangart von Marshall und mir verkündet und durchgesetzt werden, weil du auf dem Anwesen bleiben musst, ist das vielleicht auch nicht schlecht.“ Sally hebt die Brauen: „Und was ist mit mir?“ Sylvain zuckt die Schultern: „So gerne ich dich bei mir hätte, Cherie, du bist in der Gruppe hübscher junger Frauen, die sich hier auf dem Anwesen einen schönen Lenz macht, weit besser aufgehoben als drüben auf Ni’ihau, während Marshall und ich Corey und Marc die Hölle heiß machen.“ Dass Esther ihn einen Chauvinisten nennt, ficht den ehemaligen Fremdenlegionär nicht an. Er zwinkert: „Du siehst das idealistisch. Ich sehe das militärisch. Gegen idealistisch-militante Idioten ist – geschlechtsunabhängig – die harte Kommandeursnummer geeigneter. Dafür bist du nicht die Person, Chefin, und Sally genauso wenig. Lass uns die Wogen glätten und die überstehenden Nägel einschlagen oder absägen, danach können wir was Innovatives planen. Bis auf weiteres würde ich noch ein paar Schiffchen bemalen, ein bisschen Plastik an Küsten anlanden, Schleppnetze abschneiden und Tanker mit Gülle und Verklapptem bespritzen. Corey und Marc werden getrennt – einer fährt mit Marshall, der andere mit mir. Wir machen Schlagzeilen, ihr posiert für die Seite-Drei-Bildchen der Paparazzi und wenn sich Zorn der Zornigen und dein Schuldgefühl ein bisschen gelegt haben, machen wir mal die ‚drastische Aktionen‘-Schublade wieder auf.“ Esther wiegt den Kopf hin und her, Sally seufzt. Dann zuckt Esther die Schultern: „Nicht, dass es mir gefallen würde, Sylvain, aber unrecht hast du nicht. Wir machen hier ein bisschen Mädelssause und ihr trinkt Bier und schlagt den Scharfmachern die Flaschen über den Schädel. Was soll’s, Idealismus hin oder her, wir sind in der Durchführungsphase und da braucht’s Realismus.“ Mit einem „D’accord“ schließt Sylvain das Thema ab, und Hiller erklärt, er werde das Telefon zurückbringen und Cocktails mixen. Die Gruppe am Strand entspannt sich, und posiert nun wirklich für die Kameras als fröhlich-dekadente Strandsause.

Marc Walters starrt mit stumpf wirkenden Augen gegen die grob behauene Wand der uralten Lava-Höhle, in der die Gruppe ihr Hauptquartier auf Ni’ihau hat. Vor ihm steht ein leerer Becher, der wohl einmal Kaffee enthalten hat, daneben liegt seine halboffene Geldbörse. Kein Ausweis ist darin zu sehen, auch kein Führerschein – nur ein Bild von einer jungen Frau, die in die Kamera lächelt: Anna Perkins. Tränen hat er nicht vergossen, aber die Leere, die der Tod seiner Freundin in ihm hinterlassen hat, ist ihm deutlich anzusehen. Aber da ist noch mehr, und Corey Callaghan scheint das regelrecht zu riechen, als er mit zwei Flaschen Bier an den Tisch in dem kleinen Gemeinschaftsraum tritt. „Hey, darf ich mich zu dir setzen?“ Walters bemerkt ihn nur mit reichlich Verzögerung, dann macht er eine vage einladende Geste. Corey setzt sich und stellt die zweite Bierflasche vor Marc hin. Er hält es einige Minuten aus, in denen er nur gelegentlich an seinem Bier nippt und Marc seinen Gedanken nachhängen lässt, doch dann fragt er recht unvermittelt: „Was denkst du? Sollten wir es ihnen nicht heimzahlen, dass Anna…“ Marc runzelt die Stirn, dann erklärt er ärgerlich: „Anna ist für ihre Überzeugung gestorben. Das heißt nicht, dass es weniger weh tut. Aber es war ein Fehler, ihnen beim Kentern zuzugucken.“ Corey bemüht sich, dass Marc ihm nicht anmerkt, dass er angestrengt nachdenkt. Dann schießt er ins Blaue: „Aber sie abzuschießen war richtig.“ Marc nickt, zögert, dann schränkt er ein: „Ich finde das schon. Anna war… anderer Ansicht. Anna wollte weiter Schiffe bemalen, sie mit Gülle bespritzen und so etwas. Sie war der Ansicht, dass wir sie erziehen sollten, statt ihnen substanziell zu schaden.“ Corey hakt nach: „Aber du bist anderer Ansicht?“ Marc nickt vehement. Dann erklärt er betont, dass man eine Situation der Überlegenheit über die Umweltsünder hergestellt habe. Auch Marshall Wells und Sylvain Chartrand betonten immer wieder, wenn es fair zuginge, habe man etwas falsch gemacht. Er schließt mit den fest geäußerten Worten: „Wir haben die Ausrüstung, ihnen wehzutun. Was sie tun, gibt uns das Recht, ihnen wehzutun. Marshall und Sylvain müssen das einsehen. Die Mädchen sind wahrscheinlich zu weich dafür.“ Corey nickt, dann drückt er sanft Marcs Schulter: „Am Ende werden sie es richtig finden. Sylvain und Marshall sind Soldaten, die wissen, dass man drastisch vorgehen muss. Sie müssen nur einsehen, dass Esther uns in der Sache bremst, weil sie zu weich ist.“ Marc nickt und nippt aus der Flasche. Corey bietet ihm seine Flasche zum Anstoßen an, zögerlich schlägt Marc ein. Als Carmen Ochoa Sanchez dazustößt, haben die beiden bereits das Thema gewechselt. Sie holt sich ebenfalls eine Bierflasche und gesellt sich zu den beiden Männern. Dass die beiden recht vertraut wirken, fällt ihr auf – aber weder Corey noch Marc lassen sich davon ködern, dass sie das Gespräch auf die vergangene Mission zu lenken versucht. Zu schmerzlich sei das, meint Marc, und Corey erklärt, man müsse nach vorne sehen.

„Was planst du, Onkel Nick?“ Dorothy Howard-Fielding lehnt in ihrem Sessel hinter dem Schreibtisch im ehemaligen Büro ihres Vaters in der Zentrale in Oakland. Nicolas Howard hat es sich in einem der Ledersessel vor dem Schreibtisch bequem gemacht und lächelt gequält: „Charlie ist immer mehrgleisig gefahren, Dorothy. Ich finde es fahrlässig, nur auf die Formfehler bei der Ausschreibung zu setzen.“ Dorothy schüttelt den Kopf: „Hast du das Dossier von Colette Williams überhaupt gelesen? Das wird funktionieren…“ Nick zwinkert ihr zu: „Und wenn nicht? Was wird dein Senator sagen, wenn du Howard Industries in eine rechtliche Fehde mit der Navy steuerst?“ Es fällt ihr sichtlich schwer, ihn direkt zu fragen, aber sie ist zu neugierig auf seine Alternative, um es bei den indirekten Herausforderungen zu belassen: „Gut. Also, was hast du vor? Was ist dein Plan B?“ Für einen Moment lässt er sie noch zappeln, lange genug, um sie zu einem ärgerlichen Schnarren zu animieren: „Ist das nicht UNSER Unternehmen, Nicolas?“ Er nickt und bestätigt. Dann erklärt er umständlich, dass er auf eine andere Argumentation setzen wolle – nämlich die Tatsache, dass das Problem eigentlich gelöst gewesen sei und die Akten, die den schlechten Projektfortschritt bezeugen würden, eigentlich fehlleitend seien. „Mr. Arden ist der Ansicht, dass die Formel von Dr. Callaghan ganz in Ordnung ist, dieser wohl nur zu unfähig war, das ganze den Maschinen richtig beizubringen. Das hätte er wohl Arden überlassen sollen. Er hat stundenlang Tafeln mit demselben chemischen Kauderwelsch vollgeschrieben, den dein Vater auch immer an Tafeln kritzelte. Ich denke, wir sollten es versuchen, den Kram mal in die Maschinen eingeben zu lassen – und zwar durch einen, der das kann, nicht durch einen Theoretiker wie Callaghan. Dann würden wir nur im Verzug sein – und zwar durch eine Verkettung ungünstiger Umstände: Ein eitler Chemiker und ein Brand. Wenn wir dann noch mal ein paar zehntausend Dollar investieren, könnten wir zeigen, DASS wir das Projekt können. Dann können wir deinen Angriff auf das Verfahren und unseren Beweis, dass wir das hinbekommen, zu einem Vergleich mit der Navy gießen lassen. Die kriegen ihre Beschichtung und wir das Geld.“ Dorothy neigt den Kopf zur Seite, dann nickt sie langsam: „Immer vorausgesetzt, es funktioniert.“ Er grinst: „Gibst du mir ein Budget und ein paar Leute, um Arden zu unterstützen? Setzt du ihn wieder ein, als Abteilungsleiter? Er ist der einzige, der mit den Daten vertraut ist.“ Dorothys skeptischen Blick lässt er ihr recht rasch aus dem Gesicht fallen, denn er gibt zu, dass noch jemand mit dem Projekt vertraut sei und zudem in Chemie-Ingenieurwesen ausgebildet. Doch auch die erwartungsvolle Miene, die sie dann aufsetzt, wischt er recht schnell aus ihrem Gesicht. Denn ihre Frage, wer das sei, beantwortet er trocken: „Esther Goldstein.“

Folge 2.9: Stiefmuttergespräch

Sally Marsh lehnt sich zurück und hält das Gesicht in die Sonne. Sie lässt sich nicht anmerken, dass sie ebenso wie Sylvain Chartrand, Willard Sanders und Esther Goldstein-Howard um die Drohne weiß, die ein wenig außerhalb der Sichtweite über dem Meer schwebt und Kameras auf sie gerichtet hat. Der Wind und die Brandung machen wenigstens die Gespräche unabhörbar. „Ich bin so froh, dass…“, doch weiter lässt Esther sie nicht kommen: „Nicht, Sally, bitte. Es ist mehr als schlimm genug, dass Anna dort im kalten Meer ertrunken ist.“ Sally seufzt, dann erklärt sie mit hörbarer Gereiztheit: „Esther, es ist nicht deine verdammte Schuld, dass Anna ertrunken ist. Wir haben die Aktion nicht durchdacht, und du wolltest Coreys Drang nach härterer Gangart befriedigen, aber zugleich Pazifistin bleiben. Es ist Scheiße, dass wir es auf diese Weise gelernt haben – wir alle. Aber es ist so, und wir müssen nach vorne schauen. Ich wollte aber auf etwas ganz anderes hinaus…“ Esther blinzelt in die Sonne und zögert. Sie ist sich nicht sicher, ob sie Sally widersprechen muss, aber sie entschließt sich, die Worte so stehen zu lassen und nachzufragen, was Sally meinte. Sylvain registriert es ebenso wie Will Sanders, doch beide Männer hüten sich, eine Bemerkung dazu zu machen. Sally erklärt: „Auf der Rückfahrt waren wir zu sehr durch den Wind – aber auf der Hinfahrt, naja, Sylvain und ich…“ Für ein paar Augenblicke kommt Esther der Gedanke, dass sie eben nachgegeben hat, dann begreift sie schlagartig, was Sally sagt, und stößt hervor: „Ihr seid also ein Paar?“ Sylvain sieht zur Seite – er versucht zu vermeiden, dass Esther sein Erröten sieht. Sally lächelt und zwinkert ihr zu: „Man muss verdammt eng zusammenliegen, um sich eine Koje auf einem unserer Boote zu teilen. Man muss sich verdammt sicher sein, wenn man hinnimmt, dass der Rest der Besatzung es mitbekommt.“ Sylvain muss plötzlich lachen, was Sally skeptisch die Stirn runzeln lässt. Doch er fasst sich schnell und erklärt dann: „Ruhig Blut, Cherie. So sicher kam ich mir gar nicht vor. Du hast dich auch eher vorsichtig geäußert, bis Carmen uns überrascht hat. Aber im Rückblick betrachtet stand es lange genug im Raum.“ Sallys skeptischer Blick wandelt sich zu einem Lächeln. Sie nickt und will gerade noch etwas zum Thema beisteuern, doch Esther schneidet ein anderes Thema an: „Mir macht Sorgen, wie Marc und Corey nun agieren werden. Aber immerhin haben wir gute Gründe, Corey keines der Boote allein zu geben. Marshall und du sind einfach erfahrenere Kommandanten. Das reduziert das Risiko weiterer Hazardeurs-Aktionen. Die Kombination aus Corey und mir ohne einen von euch Soldaten ist – schlecht. Das hat uns diese Katastrophe eingebrockt.“ Sally und Sylvain wechseln vielsagende Blicke, doch Esther geht nicht darauf ein. Als Sally doch noch etwas sagen möchte, werden sie unterbrochen: John Hiller tritt an den Strand, ein Mobilteil des Telefons in der Hand: „Mrs. Goldstein-Howard, Miss Howard für sie.“ Will schüttelt sich, Sally und Sylvain machen große Augen – doch nach kurzem Zögern nimmt Esther das Telefon an: „Danke, John.“ Sie lehnt sich zurück und meldet sich: „Hallo?“

Claire bekommt zuerst keinen Ton heraus, als sie Esthers Stimme am Telefon hört. All die Gedanken über Dinge, die sie Esther sagen oder fragen möchte, sind ihr abrupt entglitten. Sie hasst sich sofort für ihr dünnes: „Äh, hallo.“ Doch Esther lässt sich nicht beirren, ein vorsichtiger, aber durchaus wohlwollender Unterton ist in ihrer Stimme, als sie die Pause in der Leitung unterbricht, bevor sie wirklich peinlich werden kann: „Ich habe von Liz Ames gehört, dass sie die Anfechtung des Erbes vor Gericht verhindert haben, weil ihr Vater sie hätte leer ausgehen lassen, bevor er das Testament auch zu meinen Gunsten geändert hat. Das war ein feiner Zug von ihnen. Ich war etwas erstaunt, dass sie zu Liz gegangen sind, statt Dorothy, Charles Junior und Nicolas einen Rückzieher ohne so viel Aufsehen zu ermöglichen.“ Diese Offenheit hilft Claire nicht so viel, wie Esther sich das vielleicht erhofft hat. Die Gedanken wirbeln durcheinander, aber nach vier, fünf, vielleicht sechs Sekunden beschließt sie, der Reihe nach zu sagen, was ihr einfällt: „Äh, naja. Ich wäre nicht leer ausgegangen. Meine Mutter wird von der Howard-Stiftung unterstützt, und die hätte die Hälfte bekommen… ich wäre sozusagen die einzige gewesen, die etwas bekommen hätte. Aber ich fand es nicht richtig, sie fertig machen zu wollen, nachdem ich gehört hatte, was sie gesagt haben.“ Nun ist es auf der anderen Seite der Leitung für einen Moment still. Claire kann Stimmen im Hintergrund hören, nach einer Schrecksekunde unterbricht Esther jedoch das Hintergrundgeräusch: „Seid doch mal still. Okay, Miss Howard – oder Miss Lagarde? Lunden?“ Dies ist nun eine Frage, bei der Claire eine eindeutige Antwort hat: „Claire Howard. Sie können mich gerne Claire nennen – ich bin es nicht gewöhnt, Miss Howard zu sein, oder auch Miss Lagarde oder Miss Lunden. Fühlt sich alles nach einem Menschen an, der… sich seiner Sache sicherer ist, als ich es bin.“ Esther lacht auf. Ihre Stimme zeugt davon, dass sie wohl gerade mit dem Telefon in der Hand ein paar Schritte geht: „Du gestehst Schwäche gegenüber mir ein, Claire? Du bist wirklich keine von den eigentlichen Howards. Nenne mich ruhig Esther. Ich bin ein wenig bestürzt, muss ich gestehen. Mr. Aldred hätte das Tonband vernichten sollen. Es war – wie ich glaube – auch nicht besonders schmeichelhaft für ihn.“ Claire beißt sich auf die Lippen, als sie an die Worte denkt, die Aldred in Esthers Gegenwart für deren Figur gefunden hatte, und erwidert betreten: „Besonders viel sympathischer ist er auch mit Mai und mir nicht umgegangen. Aber darum ging es eigentlich gar nicht. Diesen alten Mann werde ich nicht mehr ändern und mit ihm muss ich auch nicht mehr zu tun haben.“ Esthers Lächeln ist ihrer Stimme anzuhören: „Charles realisierte es zuerst gar nicht. Erst später wurde ihm klar, dass Aldred mich behandelte wie die hübsche Trophäe, als die mich das Testament eben genau nicht behandeln sollte. Es ist eine andere Generation, ich hoffe, die sterben bald aus. Aber was kann ich für dich tun, Claire? Du rufst doch nicht hier an, um meine Stimme zu hören und dich über den alten Sexisten Aldred zu beschweren, nicht wahr?“