Während die drei U-Boote auf unterschiedlichen Kursen durch das polynesische Dreieck südwärts streben, lehnt Esther auf der „Aphrodite“ an einer Konsole. Eli ist vor ihrem Aufbruch vom Anwesen zurück nach Israel geflogen, sie selbst hat ihn zum Flughafen gebracht. Ein wenig befreit fühlt sie sich daher, während sie den transparenten Bildschirm in der Kommandozentrale betrachtet. Drei blaue Linien ziehen sich durch den Pazifik, von Hawaii nach Süden. Die westlichste gibt den Kurs der „Aphrodite“ an, ein blauleuchtender Punkt zeigt an, wo sie sich gerade befinden. Die Positionen von „Nereide“ und „Tethys“ basieren auf Schätzungen. Drei rotschraffierte Operationsgebiete sind in der Antarktis zu sehen, mehrere grüne Linien markieren Rückzugskurse, gelbe Linien stehen für Fluchtkurse. Callaghan, Wells, Chartrand und Esther selbst haben lange an dem Plan gefeilt, dem Rest der Besatzung wurden die genauen Kurse, Operationsgebiete und Ziele erst offenbart, als die Boote getaucht waren. „Bis jetzt ist alles frei, Sir.“ Der Orter am SONAR lehnt sich zurück. Corey Callaghan bestätigt die Ansage mit einem Nicken, Esther geht um den Bildschirm herum. Sie übernimmt die Kopfhörer, dankbar verlässt der junge Asiate seine Ortungsstation. Callaghan grinst: „Nennst du mich auch ‚Sir‘, Esther?“ Sie schüttelt den Kopf und konzentriert sich auf die Geräusche im Wasser, dreht die Filter, die der Kollege hochgefahren hat, wieder zurück und stimmt sich auf das Ortungssystem ein. Callaghan zuckt die Schultern. Ihm wird bewusst, dass Esther sehr wohl klar sein muss, wie gerne er von ihr als Übergeordneter angesprochen würde. Aber sie ist die Chefin der Organisation, sie hat Geld, Equipment und Überblick in ihrer Hand, auch wenn sie auf dieser Fahrt immer die dritte Schicht des Orters übernimmt. Er beobachtet, wie sie die Stirn kraus zieht, an einem Regler dreht und lächelt. Ihre Lippen formen lautlos Worte, doch Corey versteht nicht, dass sie gerade einen Wal und einen Tanker hört. Ein drittes Geräusch aus einer anderen Richtung hat sie noch nicht identifiziert, daran macht sie sich nun. Die Routine auf dem Boot hat sich recht schnell eingespielt, auch wenn nur rund ein Drittel der Organisation Vorbildung im U-Boot-Fahren hatte. Chartrand und Wells haben allerdings mit endlosen Erklärungen, hartem Drill, aber auch viel Geduld drei Besatzungen geschmiedet, die zumindest in der Routineaktivität sehr professionell agieren. Einen richtigen Ernstfalltest gab es zwar noch nicht, aber Esther wie auch Corey Callaghan sind sich sicher, dass die Gruppe auch hier bestehen wird – Esther mit vorsichtigem Optimismus, Callaghan mit für Esthers Geschmack etwas zu viel Selbstvertrauen. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen, dann schluckt sie heftig: „Corey, ausweichen nach Westen. Das ist ein Zerstörer, vermutlich chinesisch.“ Als er nach der Position fragen will, hat sie bereits eine Ellipse mit dem wahrscheinlichsten Aufenthaltsgebiet des Schiffes auf den Hauptschirm gelegt. Callaghan lässt auf halbe Fahrt drosseln und weicht gegen die Fahrtrichtung des Kriegsschiffes aus, während Esther die Geräusche aufnimmt, analysiert und ihre Ortung beständig präzisiert. Es dauert rund vier Stunden, bis der chinesische Zerstörer tatsächlich umgangen wurde und die „Aphrodite“ wieder auf ihrem vorherigen Kurs ist. Nach kurzem Rechnen stellt Esther fest, dass zumindest „Nereide“ unter Wells auch noch den Kurs des Zerstörers kreuzen wird. Es gibt keine Möglichkeit, das andere Boot zu warnen – Esther passt lediglich die Abschätzung der Position des U-Bootes an, indem sie ein vergleichbares Ausweichmanöver annimmt. Das Ereignis bleibt das einzige, das die Routine ihrer Schicht unterbricht.
„Miss Sakamoto?“ Claire tritt an die Theke. Mai lächelt: „Die bin ich. Ich habe ihr Mäppchen gefunden – sie sind Claire Howard?“ Claire nickt entschlossen und nimmt neben Mai auf dem Barhocker Platz. Sie fragt besorgt, ob es zu viel Aufwand gewesen sei, für die Rückgabe des Mäppchens nach San Francisco zu fahren, doch Mai winkt ab. Sie tue das gerne, allerdings sei sie neugierig. „Sie sind doch DIE Claire Howard, die Tochter von Charles Benjamin Howard, nicht wahr? Sie lassen im Moment prüfen, ob das Testament von Charles B. Howard angefochten werden kann, oder?“ Claire beißt sich auf die Lippen. Sie zögert und druckst herum, doch schließlich nickt sie. „Ja, die bin ich. Ich bin mir aber nicht mehr so sicher, ob das Anfechten des Testaments so eine gute Idee war. Sind sie Juristin?“ Mai winkt ab und erklärt, vieles davon sei doch in der Zeitung gewesen. Dass Nicolas Howard, Dorothy Howard-Fielding, Charles Howard Junior und Claire Howard das Testament des alten Howard anfechten, darüber spreche die halbe Bay Area. Schließlich sei der Chemiekonzern in Oakland ein großer lokaler Arbeitgeber. Claire zögert, doch dann tritt sie die Flucht nach vorne an: „Und nun fragen sie sich, wieso eine Erbin von Charles B. Howard, die noch mehr von einem Chemie- und Kunststoffkonzern wie Howard Industries haben will, als sie ohnehin schon besitzt, mit Ökoterroristen sympathisiert?“ Trotz der durchaus recht japanischen Erziehung, die Ichigo Sakamoto seiner Tochter angedeihen ließ, fällt es Mai sehr schwer, ihre Bestürzung über diese Frage zu verbergen. Hat Claire sie durchschaut? Ist die Howard-Familie der Gruppe um Esther etwa bereits auf der Spur? Nach einem kurzen Biss auf die eigene Unterlippe fragt sie: „Ist – das so offensichtlich, dass ich mich das frage?“ Claire lacht auf. Sie schüttelt den Kopf und ist froh, dass der Barkeeper gerade vor den beiden Frauen auftaucht. Sie bestellt kurzerhand einen Cappuchino und ein Glas Weißwein, Mai zieht mit einem Latte Macchiato und einem Glas Rotwein nach. Beiden Frauen kommt fast gleichzeitig der Gedanke, dass die jeweils andere sich von ihr aus irgendeinem Grund ertappt fühlt. Bevor Mai die richtigen Worte findet, platzt Claire heraus: „Ich wollte nie Anteile an Howard Industries. Ich finde es aber nicht okay, dass eine junge Frau einen alten Mann heiratet, um Geld zu erben. Aber eigentlich weiß ich gar nicht, ob Esther Goldstein-Howard das deswegen gemacht hat. Das sagen nur meine älteren Halbgeschwister. Ich bin auch nicht sicher, ob ich mit so einem Konzern wie Howard Industries verbandelt sein will, die stellen so viel Kunststoff her und all das Zeug landet im Meer. Ist natürlich nicht nur die Schuld von Howard Industries, aber wenn die das Zeug nicht herstellen würden…“ Mai legt sanft ihre Hand auf Claires Handgelenk: „Dann würden es andere tun. Es ist schon gut. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben – ich darf doch Claire sagen, oder?“ Claire nickt. Mai fährt fort, dass Howard Industries ja auch gar nicht das kleinteilige Zeug herstelle, das mit dem Hausmüll auf Deponien und im Meer lande, aber Claire lässt das nicht gelten. Sie verweist auf den Umweltskandal, bei dem auch Howard Industries an der Belastung des Trinkwassers mit Lösemitteln beteiligt war. Schnell reden sich die beiden jungen Frauen über Umweltverschmutzung in Rage, trinken ihren Kaffee und Wein und bestellen noch eine Runde. Als sie viel später zahlen, stellt Mai erschrocken fest, dass sie ihren letzten Zug nach Hause verpasst hat. Claire bietet ihr an, auf dem Sofa zu übernachten, wenn sie keine Katzenallergie habe, und Mai schlägt ein. Den ganzen Weg von der Bar zu Claires Wohnung, einige Blocks weit durch San Francisco, überlegt Mai, ob sie Claire von der wahren Natur von Esthers Engagement erzählen sollte. Der Alkohol sorgt dafür, dass ihre Hemmungen geringer sind als sonst, aber sie schweigt doch. Claire fällt die plötzliche Schweigsamkeit ihrer neu gewonnenen Bekannten auf, aber sie fragt nicht nach. Erst als die beiden noch eine Kanne Tee teilen, meint Mai plötzlich: „Ich kenne deine Stiefmutter. Mein Vater ist Kapitän der ‚Charlotte Howard‘. Sie hat wirklich sehr um deinen Vater getrauert, wegen des Geldes hat sie ihn bestimmt nicht geheiratet. Esther ist eigentlich eine ziemlich engagierte Pazifistin und Umweltschützerin, auch wenn alle denken, sie verprasse nur das Geld der Howards.“ Claires Gedanken waren ganz woanders, so dass sie nur mit Verzögerung begreift, was Mai da gesagt hat. Sie dreht die Worte in ihrem Geist, dann fragt sie: „Esther? Esther Goldstein-Howard, meinst du? Und dein Vater ist Ichigo Sakamoto?“ Mai nickt. Nach einer weiteren Schrecksekunde fragt Claire anklagend: „Wusstest du das, als du mein Mäppchen aufgehoben hast? Hast du es deswegen getan?“ Die junge Japanerin schüttelt den Kopf. Das habe sie erst viel später begriffen. Sie sei sich bis zum Treffen mit Claire in der Bar gar nicht sicher gewesen, denn Claire und auch Howard seien ja durchaus verbreitete Namen. Erst Claires Gesicht habe ihr die Erkenntnis gebracht, dass sie DIE Claire Howard sei. Beide Frauen liegen in dieser Nacht lange wach und hängen Gedanken nach – Claire in ihrem Bett und Mai auf Claires Sofa.